Das halbierte Evangelium

«Auch im Glauben gibt es Modeströmungen. Auch in der kirchlichen Verkündigung gibt es Themen, die im Vordergrund stehen und Traditionen, die eher unbeachtet bleiben. Wenn aber der Zeitgeist umschlägt, geraten andere Überlieferungen ins Scheinwerferlicht. Oft sind es die Themen im Dunkeln, die die Zukunft prägen. Dort ist etwas zu lernen, was uns in der kommenden Zeit weiterhelfen wird. So wird das Evangelium in der Verkündigung immer wieder verkürzt oder gar „halbiert“. Aber es hat eine Kraft in sich, die neugierig macht, auch die andere Hälfte kennen zu lernen.»

6. Januar 2012

 

Wo und warum wird das Evangelium «halbiert»?
Im Folgenden einige Texte aus einem Kurs, den ich 2012 gehalten hatte.

Das „halbierte Evangelium“

Sie stöbern in einer Buchhandlung. Vieles lassen Sie achtlos auf der Seite. Aber plötzlich, bei einem Titel, fühlen Sie sich wie erkannt. Sie sind wie elektrisiert! Das Buch scheint wie für Sie gemacht! Wie konnte der Autor das wissen? Aber bald begreifen Sie: Solche Bücher gibt es immer wieder. Aber früher waren Sie nicht offen für dieses Thema. So ein „Buchladen“ mit vielen Texten ist auch die Bibel. Und auch sie kennt eine Entdeckungs-Geschichte.

Nicht alles, was in der Bibel steht, berührt uns beim ersten Lesen. Wer verliebt ist, entdeckt die Liebestexte. Wer krank ist, dem erschliessen sich die Stellen, die von Krankheit und Heilung reden. Viele Erfahrungen sind in der Bibel aufbewahrt. Ob wir sie entdecken, hängt auch an uns, ob wir offen sind dafür. Darum gibt es nicht nur eine Entdeckungs-Geschichte der Bibel, sondern auch eine Verdeckungs-Geschichte. Nicht alles mögen wir hören. Bei gewissen Themen halten wir die Ohren zu.

Sehnsucht und Widerstand
Vielfältig sind die Widerstände, die schon in biblischer Zeit laut wurden und in die Bibel eingingen. So sagt Paulus: „Ich schäme mich nicht des Evangeliums“, weil es da offenbar etwas zu schämen gibt. Als es auf die Passion zugeht, verlassen die Anhänger Jesus. Und auch dem Mutigsten sagt er voraus: „Ich sage dir, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verraten“.

Der Glaubensweg braucht Mut auch in „normalen“ Zeiten, wo es nicht gleich um die Passion geht. Denn da wird ein Glaube gefordert, den man nicht beweisen kann. Sich mit seinem ganzen Leben einer solchen Botschaft anzuvertrauen, das gleicht einem Gang über ein Seil ohne Netz. Und nur wer muss, geht diesen Weg. Und er bittet Gott, dass er ihm auch gleich beim Glauben helfe: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“

Der zornige Gott und der liebe Gott
Was die Kirche aus der Tradition in ihre Verkündigung aufnimmt, ist beeinflusst von diesem Echo, das die Bibel findet. Hier gibt es ein Suchen, dort ein Zurückweisen. Nicht nur einzelne Menschen reagieren mit Zustimmung und Ablehnung auf die Bibel. Auch soziale Gruppen haben eine solche Geschichte von „Ja“ und „Nein“.

Für die einen spricht die Landeskirche zu wenig von „Gericht“ und „Wiederkunft Christi“. Den andern ist gerade das Reden von „Sünde“, „Opfertod“ und „Gericht“ zuwider. Die einen erkennen in der Verkündigung eine „Drohbotschaft“, die andern kritisieren gerade entgegengesetzt, dass der mächtige Gott des Alten Testaments zu einem „lieben Gott“ verniedlicht werde, der nicht mehr wirkmächtig in die Gesellschaft und Wirtschaft hineinreden könne.

Für die einen hat sich die Kirche ins „Lotterbett“ gelegt mit den einflussreichen Schichten. Sie sei kein „Gegenentwurf“ mehr gegen diese Welt und rede den Mächtigen nach dem Mund. Die andern verdächtigen die Kirche und ihre Verkündigung gerade für ihre Parteinahme für Witwen und Waisen und für die Benachteiligten.

Im Schatten des Zeitgeistes
Jede Zeit hat ihre Mode-Themen, und diese werden auch von der Kirche eingefordert. Anderes liegt im Schatten und gerät in Vergessenheit. Wenn aber der Zeitgeist umschlägt, geraten andere Überlieferungen ins Scheinwerferlicht. Oft sind es die Themen im Dunkeln, die die Zukunft prägen. Dort ist etwas zu lernen, was uns in der kommenden Zeit weiterhelfen wird. So wird das Evangelium in der Verkündigung immer wieder verkürzt oder gar „halbiert“. Aber es hat eine Kraft in sich, die neugierig macht, auch die andere Hälfte kennen zu lernen.

Aus einer Ausschreibung, 7. Januar 2012

 

Das Credo neu buchstabieren

Der Titel des Glaubenskurses im März mag erstaunen: Das halbierte Evangelium. Das Evangelium ist immer ganz, nie halb. Aber jeder Gottesdienst-Besucher hat schon erlebt, dass Lieder gesungen und einzelne Strophen ausgelassen werden. Mit ihrer Rede von „Sünde“, „Opfer“ oder „Gericht“ scheinen sie für Zeitgenossen nicht mehr zumutbar.

So gibt es auch Glaubens-Traditionen und biblische Texte, die in einer bestimmten Zeit kaum verkündigt werden. Aber wenn die Zeit sich wandelt, findet sich der Bibelleser vielleicht genau dort wieder. Und alte Texte werden neu entdeckt, wie es gegenwärtig mit den prophetischen Texten geschieht.

Der Glaubenskurs im März folgt verschiedenen kirchlichen Festzeiten wie Passion, Ostern, Auffahrt und Pfingsten. All diese Feste sind umstellt von Zweifeln und Anfragen.

Das beginnt schon bei der Passion: “Was ist das für eine brutale Religion, die ein Folterinstrument als Erkennungszeichen benutzt?“ Das Kreuz weckt Widerspruch seit Beginn des Christentums. „Was ist das für ein Gott, der seinen Sohn opfern muss, um die Welt mit sich selbst zu versöhnen?“ Die Rede vom Opfer ist uns fremd geworden. Wird der Tod Christi damit sinnlos? Wie kann seine Heilsbedeutung dann ausgesagt werden?

An Ostern hören die Fragen nicht auf. Sie spitzen sich eher noch zu. Dass Jesus stirbt, das zu begreifen fordert die Denkmöglichkeit unserer Kultur nicht heraus. Tod ist bekannt. Aber dass er auferweckt wird – da zeigt sich die ganze Verlegenheit einer Epoche, die den Gottesbegriff im Grunde entsorgt hat und Aussagen vom Ganzen, vom Heil und von einem letzten Gelingen nur noch als menschliche Abstraktionen behandeln kann, denen keine reale Wirklichkeit zukommt. Darum die Verlegenheit, mit der die Osterbotschaft oft verkündet wird.

Ähnlich ist es mit den Ereignissen um Auffahrt und Pfingsten. Hier gibt es nicht nur die alten Vorwürfe gegen die Mission und ihren Missbrauch im Kolonialismus. Es ist auch die Frage, wie verschiedene Weltreligionen, die jede einen absoluten Geltungsanspruch erheben, nebeneinander bestehen sollen. Davon hängt nicht nur die Verständigung ab mit fernen Kulturen, sondern auch das friedliche Zusammenleben mit Bevölkerungsgruppen im eigenen Land.

In den letzten Jahren gab es in all diesen Fragen Veränderungen. Ein anderes Klima ist aufgezogen, andere Fragen wurden wichtig, neue Wertungen kamen. Es lohnt sich, sich diesen Fragen wieder zu stellen. Sie sind herzlich eingeladen zum Glaubenskurs: Das „halbierte Evangelium“. Biblische Traditionen im Schatten des Zeitgeistes. (…)

Zweite Ausschreibung, 6. Februar 2012

 

Angriffe auf Kirche und Glaube

Gewöhnlich erlebt man sich als Kirchenmitarbeiter in dieser Zeit in der Defensive gegen alle möglichen Anklagen, die sich aus allem Schiefgelaufenen der ganzen Kirchengeschichte nähren. In einer bestimmten Optik ist es nur eine „Kriminalgeschichte des Christentums“.

Das macht auch vor der Theologie und der Bibel nicht Halt. Das gehört zur ganzen Emanzipationsgeschichte der weltlichen Kultur gegen Kirche und Obrigkeit seit der Neuzeit. Es sind die bekannten Vorwürfe, die im Einzelnen gar nicht mehr geprüft werden. Es gibt auch einen Dogmatismus in den unreflektierten Reaktionen, mit denen jede Erinnerung an Kirche oder Religion quittiert wird.

Schon das frühe Christentum wurde angegriffen. Die neue Bewegung traf in der Spätantike auf eine Kultur mit vielen konkurrierenden „Philosophen-Schulen“ (Stoa, Neuplatonismus etc.) Ein Beispiel ist die Polemik von Celsus gegen die Christen, die nicht einmal einen Weisen als Führer hätten, sondern einen Juden, der als Verbrecher am Kreuz hingerichtet wurde. So entstand als Reaktion die Apologetik, der Versuch, sich mit den Denkmitteln der umgebenden Kultur darzustellen, soweit das möglich war. Im Rückblick wurde geklagt, habe das Christentum dadurch viel Eigenes verloren, viel Fremdes aufgenommen. Immerhin konnte die Kirche sich so einen Platz erobern und behaupten, sie wurde salonfähig und später sogar zur Reichsreligion.

Die Apologetik ist der Anfang der Dogmatik: Das ist der Versuch, den Inhalt des Glaubens nicht im liturgischen Vollzug und im Nachgehen des Wegs darzustellen und mitzuteilen, sondern nach den Wahrheitsbegriffen und Erkenntnis-Verfahren der umgebenden Kultur. Wobei wieder die Frage auftaucht, ob eine „Weisheit des Weges“ anders erfahren und mitgeteilt werden kann als über das Gehen eines Weges.

Um es zu sehen und zu begreifen, was gemeint ist, muss ich mich selber auf den Weg machen. Dasselbe gilt für alle existentiellen Situationen. „Gibt es die Liebe?“ – So wohl nicht. Aber wenn ich vom Stuhl aufstehe und mich ins Leben hineingebe, dann geschieht Begegnung, dann gerate ich in eine Dynamik, die grösser ist als ich und alles, was ich will und steuern kann.

Dann begegne ich einem Stück vom Grösseren und Anderen. Und das hat mehr Realität als nur die, eine „existentielle Erfahrung“ zu sein. Es redet von einem Grossen und Ganzen, das sich als solches der Sprache nicht anbequemt. (Darum die Tradition der Verneinung und Übersteigung: Gott ist all das nicht und viel mehr, als was Sprache benennen kann. Aber das bleibt im Sprachspiel der Kultur und ist dem „Schnattern der Gänse“ fremd. Diese spüren den rechten Zeitpunkt und erheben sich zum Flug. Sie verständigen sich über den Flug, den Weg, sie gelangen ans Ziel. Und der Kulturmensch, wenn er an seinem Schreibtisch bleibt, nicht.)

Die Falle von Apologetik und Polemik
Zur Apologetik gehört die Polemik, die Abgrenzung gegen Bewegungen, die vom selben Punkt ausgehen, aber andere Richtungen einschlagen. (Die Erkennbarkeit des Ziels allerdings ist sehr eingeschränkt vom Pult aus.)

Mein Kurs folgt einem anderen Weg. Ich erlebe die Kirche, die Bibel, und alles was mir wichtig und heilig ist, immer wieder als angegriffen und oft auf billigste Weise „heruntergemacht“. Ich will aber nicht in die Falle der Apologetik trappen, auch nicht den Ball polemisch zurückgeben und nach den Schattenseiten der Angreifer fragen.

Mit dem Ansatz meines Kurses verlagere ich den Blick auf die Menschen selbst, die mir gegenübertreten, die mit ihrer Kritik immer schon eine implizite Auslegung verbinden.

Rezeptions-Ästhetik
In der Zeit meines Geschichtsstudiums in den 70er Jahren gab es in der Germanistik eine grosse Welle, eine neue Auslegemethode: die Rezeptions-Ästhetik. Der Blick wird verlagert vom Produzenten auf den Rezipienten: Was sind die Mechanismen bei ihm, bei seiner Wahrnehmung? Wo sind seine Filter, wo ist sein Ja und Nein? Wie färbt er den Inhalt bei der Wahrnehmung ein? Wie umkleidet er die Inhalte mit Mustern der Schuld-Zuweisung, der Verteidigung?

Kann es sein, dass Texte, Impulse auf diesem Weg gar nicht wahrgenommen werden im Sinn der Tradenten, sondern dass sie immer schon umgebogen werden, bevor sie auch nur zur Kenntnis gelangen – so dass es in der Wahrnehmung immer schon „Pfui-Themen“ sind, Dummheiten, Aberglauben, primitiv-archaische Relikte, fundamentalistische Abwehrreflexe auf den Fortschritt, etc.?

Widerstand
Warum wird das Evangelium halbiert? Die Faktoren liegen auf ganz verschiedenen Ebenen. Sie finden sich schon in der Passionsgeschichte des Markus:

Da ist Scham gegenüber dem Zeitgeist und seinem Wahrheits-Bewusstsein. Das ist ein ganz anderer Weg: unten sein, klein sein, das Verlierer-Image tragen.

Da ist Angst – Der prophetische Einspruch gegen Einflussreiche, die Konfrontation mit Mächtigen lösen Angst aus.

Da ist Unglaube: Es ist zu unglaublich, in jeder Welt-Anschauung, dass der Tote aufersteht, dass der Verachtete und Ausgeschlossene wieder aufgenommen wird.

Es gibt Verstummen – „Nach Ausschwitz ist es unmöglich, von Gott zu reden.“

Es gibt den Maulkorb – Das ist die Rolle der Kirche in der Moderne. (Die Geschichte hat die Kirche gebändigt und in ein Futteral gesteckt. Wer etwas sagt, was nicht dazu passt, wird abgelehnt, überhört, gemassregelt, klein gemacht. Wer etwas sagt, was der Rolle entspricht, wird als Rollenträger respektiert, gerade darum aber verachtet, weil er nur noch bellt, wie man ihm beigebracht hat.)

So kommt es zu einer selektiven Wahrnehmung der Überlieferung. Heute gibt es aber viele Anstösse, warum die Tradition neu befragt werden muss. Es gibt ein neues Interesse an untergegangenen Traditionen.

Anstösse für ein neues Hinsehen
Der Anstoss heute für ein neues Nachfragen, für ein neues Buchstabieren der Elemente kommt aus der grossen Verunsicherung von Banken-Krise, Euro-Krise, Währungs-Krise, Schulden-Krise. Und es geht weiter zu „Austerität oder Solidarität“, zu sozialen Protesten und Gewaltszenen. Es geht um Sozialabbau, um das Ausdünnen des Mittelstandes, um den Verlust der sozialen Basis für Demokratie und Bildung. Das geht heute bis zu einer Institutionen-Krise und zur Frage, ob das europäische Projekt weiterentwickelt wird oder auseinanderfällt.

11.Februar 2012

 

Domestizierung der Kirche

Kirche und Christentum stehen immer wieder in der Kritik, oft zu Recht, man muss die Arbeit immer überprüfen. Anderes betrifft die Botschaft selbst, wenn z.B. das Kreuz angegriffen wird, oder die Vorstellungen von Sünde, Sühne, vom stellvertretendem Tod Christi oder von Auferstehung.

Die Filter der Verkündigung
„Halbiertes Evangelium“ – Es gibt verschiedene Motive für das, was die Kirche sagt oder nicht sagt, verschiedene Filter für das, was ein Pfarrer verkündigt oder nicht verkündigt. Ein Filter ist auch die Stellung der Kirche in der Gesellschaft.

Das ist ja das Resultat eines langen historischen Prozesses. Seit der Antike gibt es Auseinandersetzung zwischen den Machtträgern um die Definitionsmacht im religiösen und sozialen Bereich. Das geht von der Einheit der religiösen und weltlichen Macht im antiken „Cäsaro-Papismus“ bis zum Streit zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter.

Domestizierung der Kirche
In unserer Zeit ist die Kirche domestiziert. Die Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens sind „säkularisiert“, sie sind dem Zugriff der religiösen Instanzen entzogen.

(Und es wird als Störung empfunden, wenn Immigranten aus anderen Kulturen naiv glauben, das ganze Leben von ihrem Glauben her gestalten zu können. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte wirken sie auf uns fundamentalistisch und nicht angepasst. Wir haben vergessen, dass die Katholische Kirche noch im 19. Jh. die ganze moderne Kultur abgelehnt hat in einem Kulturkampf. (1864 veröffentlichte Pius IX den Syllabus Errorum», eine Auflistung von 80 „Irrtümern“ der Moderne in Politik, Kultur und Wissenschaft.))

Rollenprosa
Diese Stellung der Kirche in der modernen Gesellschaft und Kultur führt zu einem „lustigen Phänomen“: Was kirchliche Amtsträger sagen können, ist weitgehend normiert. Es gibt enge Toleranzgrenzen für ihre Äusserungen.

So entdeckt ein Pfarrer, je länger er im Amt ist, je länger er sozialisiert ist in diesem Amt, dass er eigentlich nur noch Rollenprosa absondert. Wenn er nicht anecken will sagt er, was erwartet wird, was der Rolle der Kirche und der Pfarrer in der Gesellschaft entspricht.

Entspricht er der Rollenerwartung, so wird das honoriert. Widerspricht er der Erwartung, wird es sanktioniert.

Die Belohnung für ein Entsprechen ist eine Art von gleichgültiger Akzeptanz. Sie ist gemischt mit Geringschätzung. Denn der Pfarrer sagt ja nur, was von ihm erwartet wird und was der Stellung der Kirche in der Gesellschaft entspricht. Das kennt man schon, bevor er den Mund aufmacht.
Weicht er ab von dem, was erwartet und toleriert wird, so wird er sanktioniert. Das geht vom Nicht-Beachten, Ignorieren bis zum Lächerlich-Machen, an den Rand stellen, Skandalisieren…

Der Narr des Evangeliums
(Den Narren zu machen ist eine Form, die Rolle zu übernehmen und ihr zugleich zu widersprechen. Das Problem ist, dass ein grosser Teil von Behörde und Mitarbeiterschaft die gesellschaftliche Position einnimmt und die Rolle des komischen Kauzes, der nicht in die Zeit hineinpasst, auf die Pfarrpersonen abwälzt. Von diesen wollen auch immer weniger als Trottel dastehen.)

Das ist keine Erfindung unserer Zeit. In diesem Spannungsfeld standen religiöse Instanzen schon immer. (Spannend sind die Auseinandersetzungen im Alten Testament zwischen den Propheten und den Heilspropheten. Die waren angestellt am Hof oder an einem Kult-Ort. Sie gaben Orakel und erfüllten die Erwartungen der Kundschaft.)

Opportune – importune
Ich möchte zum Schluss zwei Stellen aus der Bibel zitieren. Sie ist letztlich die verpflichtende Basis der kirchlichen Verkündigung. Auf sie legt eine Pfarrperson das Amts-Versprechen ab. Die erste Stelle ist aus Jeremia 23. Da sagt Gott:

„Ich höre es wohl, was die Propheten predigen und falsch weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die falsch weissagen und ihres Herzens Trügerei weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse? Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR. Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“

Und der Apostel Paulus schreibt im Brief an Timotheus:

„So ermahne ich dich inständig vor Gott und Jesus Christus, der da kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten: Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre. Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden. Sondern sie werden sich nach ihren eigenen Gelüsten selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken. Sie werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zukehren. Du aber sei nüchtern in allen Dingen, leide willig, tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, und richte dein Amt redlich aus.“ (2. Tim 4,2)

„Predige zur Zeit oder Unzeit“, auf Latein heisst das: „opportune – importune“. Richte die Botschaft aus, ob es opportun ist oder nicht!

(Das opportune-importune hat sich mir besonders eingeprägt durch Peter Walss, den «Chilenen-Pfarrer», der bekannt wurde durch die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in der Kirchgemeinde Seebach Mitte der 80er Jahre. Er wurde für sein Engagement heftig angegriffen, in und ausserhalb der Kirche. Er ist später an Krebs gestorben und hat seine Eindrücke in Psalm-Gedichten verarbeitet, „Gebete auf dem Rücken liegend“. Bei einer Pressekonferenz in dieser Zeit – ich arbeitete damals als Journalist – hat er sich auf diese Stelle 2. Tim 4,2 berufen. Für mich ist er ein Glaubenszeuge in unserer Zeit.)

Aus einem Referat vor der Kirchen-Behörde, 7. März 2012

 

Kirchenregiment im liberalen Zürich

Zürich war damals keine provinzielle Ecke in Europa, sondern stand an vorderster Front der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung. Was hier geschah, fand damals weite Beachtung. Der Liberalismus fand in Zürich eine Heimstätte, als in Europa noch Restauration und Reaktion das Feld beherrschten. Der Versuch, die Kirche dem liberalen Zeitgeist zu unterwerfen, fand weitherum Beachtung und das Wort „Putsch“ ging von Zürich aus in die deutsche Sprache ein. – Auslöser war eine Revolte der Untertanenbevölkerung gegen das liberale Kirchenregime.

Der Staats-Theologe und der Putsch der Landschaft
Das 19. Jh. ist noch einmal eine Zeit intensiver Auseinandersetzung mit Religion, weil diese v.a. in der Landschaft, bei den ehemaligen Untertanen, noch lebendig war und zur Legitimierung von Forderungen herangezogen wurde.

Die liberale Obrigkeit kontrollierte Kirche und Religion. Sie säkularisierte Kirche und Schule und verstaatlichte den Klosterbesitz. Um Kirche und Glaube in ihrem Sinn zu formen, berief sie den Hegel-Schüler David Friedrich Strauss auf den neugeschaffenen theologischen Lehrstuhl, was eine Revolte der Landschaft auslöste, die das Wort „Putsch“ in der deutschen Sprache verankerte.

Das Armen-Evangelium im Gefängnis
Einige Jahre später besuchte der Schneidergeselle und Frühsozialist Wilhelm Weitling Zürich. Auch er fasste ein «Evangelium» ab für die Bedürfnisse der Zeit, diesmal aber nicht im Sinn der liberalen, sondern der sozialen Forderungen.

Während Strauss zum Professor der theologischen Lehranstalt berufen worden war (und unter dem Protest der Landschaft zurücktreten musste, bevor er sein Amt antreten konnte), wurde Weitling inhaftiert und aus der Stadt ausgeschafft. Die Arbeiterbewegung hat ihm mit einem Strassennamen bei einer Baugenossenschaft ein ehrendes Andenken in Zürich verschafft.

Der eine leitet vom Reich Gottes Forderungen ab für die Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der andere „erklärt“ Jesus philosophisch und hebt so seine religiöse und soziale Brisanz auf. Hier versucht ein Vertreter des Handwerksburschen-Sozialismus Christus als Helfer der Armen zu denken, dort übernimmt eine liberale Obrigkeit die Verwaltung von Theologie und Kirche und passt sie den neuen politischen Gegebenheiten an.

Es geht also nicht nur um das rechte Verständnis des Christentums, es geht viel mehr noch um die Verwendung religiöser Kategorien für soziale und politische Forderungen. Solche waren schon in der Reformationszeit vorgebracht worden, bis zur Konfrontation in den Bauernkriegen.

Das Entstehen einer Arbeiterschaft im 19. Jh. gab noch einmal Anlass für ein Ernstnehmen der Bibel in den sozialen Auseinandersetzungen, bis weltanschauliche Ideologien das Feld übernahmen. Auf den christlichen Schwärmer Weitling folgte der Systematiker Marx, der aus Hegels System einen «wissenschaftlichen Sozialismus» ableitete.

Wurde das Evangelium «halbiert»? Es gerät zwischen die Fronten der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Es hilft, die eigene Situation zu verstehen und dient für die Legitimation von Forderungen. Das kann auch zynisch erfolgen, wenn also keine innere Bindung an die biblische Begründung besteht, wenn nur ihre soziale Bedeutung für eigene Zwecke eingesetzt wird. In diesem Sinn haben politisch dominierende Gewalten immer auch die Deutungshoheit über Religion und Kirche beansprucht und durchgesetzt.

9.März 2012

 

Das Ende der Ironie

Alle Welt spricht Rollen-Prosa. Alle reden uneigentlich. Man hat es verinnerlicht, dass alles, was aus dem Radio kommt, nicht so gemeint ist: die Werbung in der Wirtschaft, die Werbung in der Politik, die Event-Werbung. Dazu gehört die Rollenprosa in der Kirche.

Ich muss wieder lernen, eigentlich zu reden. Wenn ich Nachrichten schaue, gibt es eine Sorte von Nachrichten, die den Stempel der Wahrhaftigkeit an sich tragen: dort wo Menschen von einer Katastrophe betroffen sind. Da fällt die Rolle, die Distanz, das Tun-Als-ob ab.

Für mich kommt noch etwas dazu: Ich kann die ironische Distanz aufheben. Mit der Ironie versuchte ich, zwei Dinge zu verbinden: das Festhalten an etwas, das mir wichtig ist, und das Wissen, dass es in der umgebenden Gesellschaft keinen Wert hat. So sprach auch ich uneigentlich vom Glauben. So redet ein verbitterter alter Mann, der seiner Wahrheit nicht mehr zutraut, dass sie die Mehrheit erobern kann. Der es sich in seiner Nische recht macht.

17.März 2012

 

Weltbilder von Staats wegen

Die Zeit, als Europa kolonisatorisch auf die ganze Welt ausgriff, war getragen von einer universellen Wahrheitsbehauptung, was sich in der Mission der unterworfenen Gebiete abzeichnete. Eine säkularisierte Version ist die Unterwerfung von ganz Europa unter das napoleonische Frankreich. Es war getragen von der Behauptung, „allen Völkern das Licht der Aufklärung“ zu bringen und sie an den Errungenschaften der Französischen Revolution teilhaben zu lassen.

Die Gegenwehr in Deutschland, die preussischen Befreiungskriege, gingen darum einher mit einer relativierenden Gegenerzählung: Jede Epoche, jedes Volk, jedes Land sei unmittelbar zu Gott und habe einen je eigenen Geist, der eine Individualität darstelle.

So war auch die Entkolonisierung nach dem 2. WK getragen von einem Geist der Relativierung. Die Moderne, die in der Globalisierung ein einheitliches Modell über alle Kulturkreise gespannt hatte, wurde abgelöst von einer Post-Moderne, die anstelle der universalistischen Behauptung eine relativierende Zurückweisung setzte.

Diesem Wechselbad von universalistischen Wahrheitsbehauptungen und relativierenden Auflösungen ist auch das religiöse Denken unterworfen. Es erfasst auch die Gläubigen in den Heimatländern, die gar nichts im Sinn haben mit Kolonien oder globalen Interessen. Ihnen wird das Glauben schwer gemacht. Dagegen hilft die Einsicht in dieses historische Schaukelspiel. Es ist interessegeleitet:

Jeder Ausgriff auf andere Kulturen ist begleitet von universalistischen Wahrheits-Behauptungen, jede Abwehr von solchen Übergriffen sucht Hilfe in Positionen, die die „Wahrheit“ relativieren oder die Erkennbarkeit skeptizistisch zurückweisen.

Der Skeptizismus ist die „Waffe des kleinen Mannes“. Das Christentum hat sich in der Kulturgeschichte oft dieser Waffe bedient, wenn es von Seiten der Philosophie bedrängt wurde. Das verhinderte leider nicht, dass es selber wieder universalistische Ansprüche bediente, wenn es sich im Vorteil sah.

26.März 2012

 

Worum ging es in dem Kurs?

 Welche Kräfte und Motive bewirken eine «Halbierung der Verkündigung»?

Widerstände
Es war eine Auswahl von Themen, die es heute erschweren, die biblischen und kirchlichen Glaubens-Traditionen nachzusprechen: weil das Weltbild sich geändert hat („Christus-Mythos“) oder weil die Wirkungs-Geschichte Schatten auf eine Tradition legte („Opfer“, „Kreuz“, Mission).

Anderes ist ein Streitpunkt zwischen verschiedenen Strömungen, die eher das Beharrende vertreten (Grosskirche) oder die befreienden Tendenzen (wie Befreiungstheologie, Religiöser Sozialismus, Feministische Theologie).

Oder es sind Positionen, die sich in der Kirchengeschichte schon in verschiedene Organisationsformen auseinander gelegt haben (Landes-Kirchen, Freikirchen mit ihren je anderen Schwerpunkten).

Anderes hat Widerstände aufgegriffen, die aus der Spiritualität selber kommen (der Nachfolgeruf oder die Aufforderung, sein Kreuz auf sich zu nehmen).

Neue Interessen in dieser Zeit
Schliesslich gibt es den Wandel des Zeitgeistes, der bisher Unterdrücktes neu ins Licht rückt (das prophetische Einstehen für Gerechtigkeit, nicht auf der Ebene der Individual-Moral, sondern als Forderung der sozial-ökonomischen Gestaltung des Zusammenlebens).

Mein Interesse
Für mich wichtig war das biographische Element: Ich wollte, und sei es erst vor der Pensionierung, wenigstens einmal das machen, für das ich Pfarrer geworden bin, gegen die Übermacht der Forderungen, die dem Träger der Pfarrer-Rolle übergestülpt werden.  Es war anstrengend bis zur Erschöpfung, aber auch befriedigend, weil ich dem folgte, wo ich Notwendigkeit verspürte.

3o.März 2012

 

Der Leidenschaftliche Gott

Eine kraftvolle Sprache hatten die Menschen früher, um von Gott zu reden. Unsere Sprache heute wirkt seltsam blass dagegen. Farblos und unbeteiligt, wenn wir an all das denken, was in der Welt geschieht. Ist das Gott egal, wenn Menschen ausgenützt werden, wenn sie Haus und Stelle verlieren? Wenn sie fliehen müssen und nichts retten als das nackte Leben? – Ist es ihm egal, wenn Tiere aussterben, Pflanzen ausgerottet werden, die Gestalt der Erde verödet?

„So spricht Gott, der Herr – mit glühender Leidenschaft will ich reden!“ (Ez 36,5)
Das kündigt Gott beim Propheten Ezechiel an. Sein Zorn ist erregt, er sieht, wie Unrecht geschieht und will einschreiten. –

In der Bibel begegnet uns immer wieder ein Gott voller Gefühle und Leidenschaft. Das ist ungewohnt für uns und wirkt seltsam. Unserer Gottesdienste fliessen in einem ruhigen Gleichmass dahin. Ein Gott, der zornig wird, das erscheint uns urtümlich und primitiv. Gott, wie wir ihn uns vorstellen, hat keine Gefühle. Und wir müssen uns erst sagen lassen, dass das zur alttestamentlichen Vorstellung von einem König gehört: ein König muss das Recht wahren in seinem Land. Wenn er Unrecht sieht, wird er zornig. Und das wird von ihm erwartet. Denn dann greift er ein. Das hat den Menschen in der Bibel geholfen. Wenn sie sahen, dass Gott zornig wurde, dann wussten sie, dass einer da ist und sieht. Sie sind nicht allein. Da ist einer, der helfen kann, und er ist der Sache gewachsen.

Die Sprache
Eine kraftvolle Sprache hatten die Menschen früher, um von Gott zu reden. Unsere Sprache heute wirkt seltsam blass dagegen. Farblos und unbeteiligt, wenn wir an all das denken, was in der Welt geschieht. Ist das Gott egal, wenn Menschen ausgenützt werden, wenn sie Haus und Stelle verlieren? Wenn sie fliehen müssen und nichts retten als das nackte Leben? – Ist es ihm egal, wenn Tiere aussterben, Pflanzen ausgerottet werden, die Gestalt der Erde verödet? –

Aber sollen wir so von Gott reden, dass er sich in alles einmischt und politisch Partei ergreift? Im Islam gibt es Prediger, die das Volk aufhetzen. Das ist sicher kein Weg. Von Gott zu reden, als ob ihn alles nichts anginge, was auf der Welt geschieht, kann uns aber auch nicht helfen. Ein gutes Beispiel von Gott zu reden und dabei die Sorgen ernst zu nehmen, das finden wir im ersten Testament bei den Propheten.

Wer die Bibel liest, dem fallen die Propheten zuerst gar nicht auf. Die Bibel beginnt mit langen Erzählungen, und darin eingebettet tauchen einige Propheten auf. Im 19. Jh. hat die Bibel-Forschung entdeckt, dass die Propheten älter sind als die Erzählungen. Sie sind ursprünglicher. Das hat damals eine eigentliche Propheten-Begeisterung ausgelöst.

Wie aus dem Nichts scheinen sie aufzutauchen, diese Propheten. Als das Land leidet unter Ungerechtigkeit, als die Not gross ist in der Bevölkerung, da treten sie auf und sie verkündeten Gottes Wort. Sie scheuen den Konflikt nicht mit Autoritäten. Sie stehen ein für das Recht, unerschrocken und bereit, auch die Ablehnung und Verfolgung zu tragen, die mit dieser Aufgabe verbunden ist.

So etwas, dachte man, müsste man auch heute wiederhaben. Und die Dichter damals, liessen sich anstecken. Sie wollten auch Propheten sein und das Wort verkünden, so dass sich unter ihrem Wort die Welt verändert.

Die Welt verändern durch eine Predigt – das ist viel verlangt. Was wir brauchen, was wir suchen, ist eine kräftige Verkündigung, eine Sprache, die das aufnimmt, was die Menschen heute bewegt. Gesucht ist das Bild eines Gottes, der den Dingen gewachsen ist. Und der nicht abseitssteht.

Abseitsstehen ist nicht gern gesehen in der Bibel. Das ist das, was Gott den Menschen vorwirft im Neuen Testament: dass sie abseitsstehen. „Ihr sagt, ihr seid reich und habt alles. Ihr braucht nichts. Ihr seid weder kalt noch warm. Ach dass ich doch warm wäret. Ihr seid lau, und ich will euch ausspucken aus meinem Mund, spricht Gott!“  So heisst es in der Offenbarung über die Gemeinde von Laodizea. (1,14ff)

Wir sehen: eine leidenschaftliche Sprache ist gewöhnungs-bedürftig! Wenn die Kirche sie nicht mehr sprechen kann, wandert sie aus. Viele wichtige Dinge werden heute ausserhalb der Religion zur Sprache gebracht. Die Menschen sehen keinen Grund mehr, in der Kirche zu bleiben. Denn dort finden sie ihre Anliegen nicht.

In der Kirche hören sie immer von einem Gott, der lieb und zufrieden ist. Im ersten Testament tönt das anders: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert? (Jeremia 23, 29) Da ist ein leidenschaftlicher Gott, der Anteil nimmt an der Welt!

Die Sache
Eine leidenschaftliche Sprache ist das! Warum haben wir sie verloren?

Es ist nicht nur das Gottes-Bild: dass wir uns einen Gott mit Gefühlen nicht mehr vorstellen mögen. Es ist auch die Sache, um die es da geht.

Im ersten Testament geht es um das Engagement für ein ganzes Volk. Bei uns ist der Glauben privatisiert. Darum wirft das erste Testament den Blick auf das ganze Dasein der Menschen: wie sie leben, wie die Gesellschaft sich verändert, wer abgehängt wird von der Entwicklung. Und diese Menschen werden von der Gemeinschaft nicht aufgegeben, auch wenn sie aus dem System fallen.

Bei uns ist das Glaubensleben verengt auf den einzelnen und seine Psyche. Wenn man das Programm der kirchlichen Bildungshäuser anschaut, dann findet man da Wellness, Psyche, Spiritualität, aber kaum ein soziales Thema. Das ist ausgewandert aus der Kirche (und mit ihnen die Menschen, die sich dafür interessieren).

Das war nicht immer so. In den 30er Jahren erhob sich die Bekennende Kirche gegen Nationalsozialismus. Und in den 80er Jahren protestierte die Weltkirche gegen die Politik der Rassentrennung in Südafrika. Der Reformierte Weltbund erklärte, ein solches Regime sei nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben, mit der christlichen Überzeugung von der Würde jedes Menschen. (1982 wurde der „status confessionis“ ausgerufen).

Wie sollen wir das wieder lernen: ein Interesse für Fragen der ganzen Gemeinschaft?

Wir sind nicht mehr ein Volk wie im Alten Testament, das hinter Moses aus der Wüste auswandert und den Weg in ein gelobtes Land sucht. – Aber wir sind ein Volk wie im Neuen Testament, das hinter Jesus Christus aus der Wüste auswandert und den Weg ins Reich Gottes sucht. Auch die Kirche versteht sich als Gottesvolk. Und dieses lebt nicht nur im Einzelnen und in seiner Seele. Es lebt real in dieser Welt.

Aber wer ist die „Kirche“? Wer ist das Volk, das uns angeht? –

Das ist dein Nächster, sagt die Bibel: Und Christus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wenn einer in Not fällt, musst du nicht überlegen, ob er jetzt zu Dir gehört oder nicht, ob er dein Nächster ist. Christus kehrt die Frage um: hilft ihm, dann bist du für ihn der Nächste! (Lk 10,25ff)

So lebt die Kirche als Volk im realen Volk. Die Kirche hat keine äusseren Grenzen, keine Beschränkung nach Alter, Geschlecht oder Herkommen. Sie ist aber auch kein Phantasiegebilde. Sie lebt ganz real in realen Menschen. Mit ihnen hat sich Christus identifiziert, wenn er sagt: «Was du einem dieser meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan.» (Mt 25)

Wenn wir uns öffnen für konkrete Menschen und ihre konkreten Sorgen, dann kommt auch die Leidenschaft zurück, die wir in der heutigen Kirche vermissen. Dann finden wir auch eine starke Verkündigung. Es wird vielleicht nicht jene Predigt, „unter der sich die Welt verändert“. Aber sie hilft, den Glauben wieder neu verstehen.

Dann finden wir wieder einen Gott, der den Dingen gewachsen ist:

Weil wir unsere konkreten Sorgen zu ihm bringen,

Weil wir ihn für kompetent halten,

Weil wir auf seine Antwort hören, die er uns gibt, auch im sozialen und wirtschaftlichen Zusammenleben,

Weil wir uns anstecken lassen von unserem Glauben und unser Verhalten danach ausrichten.

So sagt Gott im ersten Testament: „Hütet euch, dass ihr den Bund des Herrn, eures Gottes, nicht vergesst. …Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder Gott. Wenn du aber den Herrn, deinen Gott, suchst, so wirst du ihn finden. Denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben.“ Amen (Dtn 5,23 ff)

15.Oktober 2012

 

Die Texte aus dem Kurs „Das halbierte Evangelium“ sind zu einem Buch zusammengefasst und  zum Herunterladen auf diesen Blog gestellt.

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