Durch das kleine Tal

Hier steige ich immer ab. Da vorne verengt sich der Feldweg, Bäume treten näher heran und markieren so etwas wie einen Durchgang. Hier halt ich immer an und spreche ein Gebet. Es ist vielleicht zu einer Gewohnheit geworden, aber der Grund, der mich zum ersten Mal hier beten liess, macht sich immer wieder bemerkbar:

Wenn ich weitergehe, mache ich einen Schritt in etwas Neues. Von den Rändern her macht sich etwas bemerkbar, ich habe es erkennen gelernt als ein Gefühl von Einsamkeit, ein Anflug von Verlassenheitsangst, die tief in meine Kindheit hinabreicht. Hier im «Täli» ist es nicht eine psychologische Grösse für das Denken, es ist ein Ziehen, ein Impuls, der «Achtung!» sagt. «Geh nicht weiter!» Es ist, als ob hier eine unsichtbare Grenze verliefe, die man nicht ungestraft überschreitet.

Die Grenze
Ich habe gelernt, was mir hilft: das Gebet. So gehe ich nicht auf ein «Loch» zu, etwas Dunkles, das hinabzieht. Da ist nicht Leere. Die Wirklichkeit ist erfüllt von heiliger Gegenwart, so habe ich es später benennen gelernt. Das Schreckliche, Anonyme, diese überwältigende Kraft, die in der Natur zu spüren ist und jetzt besonders, wo es auf den Hochsommer zugeht, wo die Gräser sich braun verfärben – die Blätter zeigen die Gewalt des Wetters, das tagaus tagein über die Pflanzen hingeht – verliert sein schreckliches Angesicht. Da ist ein «Du» mitten in dieser Wirklichkeit, das Antwort gibt.

Das Loch
Wenn ich hindurchgehe, weht es mich an, wie eine Erinnerung aus der Kindheit: wenn ich auf das zuging, was mich schreckte, wenn ich in unfreiwillige Kontemplation versank und nur noch ein paar Bilder mitnahm von einem Blatt, von einer Ranke, von irgendeinem Detail, auf das der Blick fiel und wo die Welt stillstand. Und dann spürte ich nichts mehr. So wurde Kontemplation mir zur Rettung, es rettete mich aus meinen Ängsten.

Jetzt aber muss ich nicht einfrieren, muss den Körper nicht verlassen, dass ich von oben auf mich heruntersehen kann wie damals in der Kindheit, als ich sah, wie ich unten am Tisch sass und Aufgaben machte, während ich oben auf dem Kasten sass und auf alles hinabschaute. Jetzt kannte ich das «Du» im Gebet. So konnte ich dem Drang widerstehen.

Das Gebet
Darum bete ich, wenn ich durch das «Täli» (das kleine Tal) gehe. Ich gehe heute freiwillig hindurch, niemand zwingt mich, wie ich als Kind gezwungen war, jene Wege zu gehen. Die Wirklichkeit ist nichts Dunkles mehr, was alles anzieht und verschlingt. Ich habe gelernt, hier eine «Mitte» zu erkennen, die Bilder des Evangeliums hier einzusetzen. Wo das «Loch» war, ist jetzt eine Mitte. Die Wirklichkeit ist gefüllt. Die Wirklichkeit hat ein Gesicht bekommen. Da ist Antwort.

 

Das Tal im Psalm 23
«Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen. / Auf grünen Wiesen lässt er mich lagern. / Er führt mich zum Ruheplatz am Wasser. / Er stillt meinen Durst. / Er leitet mich auf rechtem Weg – um seines Namens willen. / Und führt mich der Weg durch ein finsteres Tal / ich fürchte kein Unglück, denn Du bist bei mir, / Dein Hirtenstab tröstet mich. / Du deckst mir den Tisch im Angesicht meiner Feinde. / Du salbst mein Haupt mit Öl / und schenkst mir den Becher randvoll. / Du wandelst meine Tage in Glück und Gnade, und ich bleibe in Deinem Haus ein Leben lang.» Psalm 23

Vgl. zu diesem Blog das Streiflicht Die Fenster öffnen (Zur Wirklichkeitserfahrung in der Bibel)