Körper-Spiritualität

Mit dem Knie glauben

Kann man mit dem Knie glauben? – Die Frage scheint absurd. Umgekehrt ist es aber so, dass der Unglaube durchaus im Körper sitzt. „Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren“ sagt man, oder „die Angst sitzt mir im Nacken“. Das Herz setzt aus, die Glieder sind wie gelähmt.

Nicht glauben können, die Unfähigkeit zum Vertrauen, die Verzweiflung – das sitzt auch im Körper, in den Muskeln, die verspannt sind, im Atem, der stockt, das sitzt in den Knochen. Und von dort her prägt es immer wieder unsere Gefühle und unser Verhalten. So stellt sich wirklich die Frage: Kann ich mit dem Knie glauben lernen? Kann ich dem Nacken das Evangelium verkünden, dass die Angst dort loslässt?

Der Körper speichert Erfahrungen aus der Lebensgeschichte. Und er speichert auch die Reaktionen, die wir in bestimmten Momenten gefunden haben. So muss nur eine bestimmte Frage an uns herantreten, eine bestimmte Situation, und schon spulen diese Reaktions-Mechanismen ab. Und wir kommen zu spät, wenn wir bewusst darauf reagieren wollen. Die Situation ist schon entschieden.

 

Die Haltung beim Aufwachen

Das beginnt schon am morgen früh, wenn wir aufwachen. Im Kopf haben wir vielleicht schon lange zum Glauben gefunden, aber der Körper speichert noch die alten Erfahrungen. Und bevor wir bewusst den Tag anfangen, mit Bibellektüre, oder was zu unserem persönlichen spirituellen Leben gehört, steigen die alten Gefühle schon aus dem Körper auf und bestimmen die Haltung, wie wir in den Tag gehen.

Diese Gefühle sind von Mensch zu Mensch verschieden. Ein glücklicher Mensch wird mit Gefühlen der Bejahung aufwachen. Es gibt andere, die so etwas wie ein „Nein“ in sich tragen. Sie fühlen sich schon abgelehnt, bevor sie den Tag beginnen und dem ersten Menschen begegnen. Darum ist das auch ein sehr persönliches Thema: „Körper und Spiritualität“. Denn konkret wird es erst, wenn man sich der Realität seines Lebens stellt. Der Körper trägt in sich eine Erinnerung an die ganze Lebensgeschichte. Er erinnert uns mit seinen Empfindungen daran.

 

Den Keller aufräumen

Er mahnt uns damit auf eine unaufdringliche aber doch hartnäckige Art, unser Leben durchzuarbeiten. Denn wenn wir es nicht tun, stolpern wir immer wieder über die gleichen Erfahrungen. Es ist wie im Dunkeln durch einen Keller gehen: Wenn man den Keller nicht aufgeräumt hat, stösst man sich bei jedem Schritt.

Den Keller aufräumen, das Leben durcharbeiten – man könnte auch sagen: missionieren. Zwar ist unsre Landesgegend in der späten Antike durch das Christentum missioniert worden, aber manchmal denke ich, das Christentum ist noch nicht ganz bis zu mir gekommen. Mit dem Kopf habe ich es schon aufgenommen. Aber mit dem Körper noch nicht. Und es entsteht das Bild einer Mission, die auch durch den Körper geht. Damit ich später auch mit den Knie glauben kann und der Nacken mir nicht immer wieder Streiche spielt. Dass der Körper mit seinen Erfahrungen mich unterstützt im Glauben, statt mich immer wieder auf andere Bahnen zu bringen.

 

«Christus kam nur bis Eboli».

So heisst ein Buch, das beschreibt, wie das Evangelium nach Italien kam, aber es hat noch nicht alle Provinzen erlöst, so dass die Menschen dort immer noch in Dunkelheit und Verzweiflung leben. Auch bei mir gibt es noch heidnische Gebiete. Mit dem Kopf habe ich schon vom Evangelium gehört. Aber mit dem Knie bin ich noch ein Heide.

(Aus einem Workshop, das ich  an einem Pfarr-Kapitel 2008 halten durfte)

 

Der Körper als Freund und Gegenspieler

Manchmal können wir uns so verhalten, wie wir möchten, manchmal nicht. Und es scheint wie vertrackt, dass wir beim besten Willen nicht können, wie wir möchten. Wer einige Jahre mit sich unterwegs ist, kommt sich selber auf die Spur. Offenbar gibt es Muster, die immer wieder ablaufen und die aus früher Kindheit stammen. Es ist nicht leicht, diese umzuprägen. Offenbar sind es Fehlanpassungen an eine Kindheitswelt, und sie lassen uns immer noch so reagieren, als ob wir in jener Zeit lebten. Wenn wir diese Charakterprägungen umprägen könnten, würden sie uns helfen, statt uns zu behindern.

 

Der Körper als Gegenspieler
Der Körper verfügt über Reaktionsweisen, die in früher Kindheit gelernt werden. Z.B. versucht ein Mensch bei einer verletzenden Erfahrung den Schmerz abzuwenden, er versteift die Muskeln, atmet flach. Es erinnert an einen Totstellreflex.

Das wird zu einem Angstabwehr-Verhalten, das später selbsttätig abläuft und sich bei einem bestimmten Reiz reaktiv einklinkt. Die bewusste Verhaltenssteuerung kommt hier immer schon zu spät.

Das macht das Demütigende solcher Erfahrungen aus, dass man sich als unfrei erlebt, ohnmächtig, wie ausgeliefert an ein dunkles Schicksal, das aber nicht über einem lauert, sondern das man wie einen Kern in sich selber trägt. Und man hat das Gefühl, dass man im Leben immer wieder in dieselbe Falle trampelt. Man möchte an seinem Leben verzweifeln, ob man es noch zu einem guten Ende bringt.

 

Der Körper als Helfer
Auf der anderen Seite gibt es Erfahrungen, in denen der Körper sich nicht als Gegenspieler zeigt, sondern als Helfer, weil er auch die Gefühle aus «guten Zeiten» wiederbeleben kann.

Für mich war es eine Aufbruch-Zeit, als ich im ersten Studium für eine Zeitung zu arbeiten begann. Viele Dinge haben sich damals geordnet: Endlich stellte sich etwas Erfolg ein. Ich verdiente etwas Geld, konnte unabhängig werden von den Eltern. Das tat meiner Selbstachtung gut, ich konnte eine Beziehung eingehen.

An diese Zeit habe ich mich später erinnert, in einer Phase grosser Demütigungen. Aber die Erinnerung weckte nicht Bedauern, was ich verloren hatte. Die Erinnerung weckte die Empfindungen in mir aufs Neue, so dass ich wirklich besser auftreten konnte auf der Strasse. Ich hatte ein besseres Auftreten vor den Menschen. Ich konnte mich besser achten, als ich es eben noch tat.

Nicht nur die Gefühle wurden also wiederbelebt, auch die Haltung, die ich damals im Leben empfand, konnte ich wieder neu aktivieren und als Quelle für die Bewältigung meines Alltags in dieser Zeit anzapfen.

Die meisten Menschen kennen das aus ihrem Leben. Und die meisten Pfarrer nutzen das auch in der Altersarbeit: dass man mit den Menschen zu bestimmten biographischen Erfahrungen zurückgeht, wie zu einer Quelle, und dort an der Tankstelle die Energie zapft, die sie heute brauchen für ihren Weg.

 

Der Körper hat ein eigenes Gedächtnis.
Dieses ist mitbeteiligt an der Art, wie wir Situationen wahrnehmen und wie wir reagieren. Es bestimmt, wie wir uns selber als Person empfinden und wie wir in die Welt hinausschauen: So kann aus dem Totstellreflex, mit dem wir eine traumatische Erfahrung überstanden haben, ein Gefühl von Lähmung, Ohnmacht und Depression aufsteigen. Und aus der Erinnerung an eine glückliche Phase fliessen uns Quellen zu, von denen wir gar nichts wussten.

 

Sakramente
Damit wäre auch schon ein Programm skizziert: Es ist die Frage, wie wir negative Prägungen aufheben oder um-modeln können. Und wie wir vermehrt solche Tankstellen in uns verankern.

Damit ist auch die Frage der Sakramente angesprochen. Diese können uns auf dem Glaubensweg helfen, weil sie eine sinnliche Dimension enthalten. Alles Sinnliche, das eine Erfahrung begleitet, hilft, das Erfahrene im Körpergedächtnis abzuspeichern. Hier wird also das Körpergedächtnis als Hilfe eingesetzt. Es kann später wieder angezapft werden wie eine Quelle. Mit der Erinnerung werden auch die Haltungen wieder verfügbar und die Handlungsweisen, die diese erschliessen.

(Diese sinnliche Dimension des Sakraments wurde früher bewusst eingesetzt, um das Körper-Gedächtnis im Sinn des Glaubens zu prägen. – Wenn in der Antike ein Adept in einen Kult eingeführt wurde, so wurde die Initiation so gestaltet, dass sie sich der Erfahrung möglichst einprägte. Der neue Glaubensgenosse wurde durch gewissermassen „geimpft“. Das half ihm später auf dem praktischen Lebensweg, gemäss seinem Glauben auch zu leben.)

(Aus einem Workshop, das ich an einem Pfarr-Kapitel 2008 halten durfte)

Können Gedanken praktisch werden?

Dass wir im Glauben, in der praktischen Frömmigkeit, nicht am Körper vorbei kommen, das ist nichts Neues. Die Glaubenspraxis hat hier vieles aufgenommen, was in der Therapiebewegung der letzten Jahrzehnte erarbeitet wurde.

Schon bald nach Freud gab es Therapeuten, die seine Analyse als „Rede-Kur“ verstanden und nach wirkungsvolleren Mechanismen suchten, auf die Seele einzuwirken. So entstand eine körperorientierte Psychotherapie (Wilhelm Reich, Alexander Lowen und viele andere).

In den 80er Jahren gab es in der philosophischen Ethik eine analoge Diskussion. Auch dort war man unzufrieden mit einem Ansatz, der nur über den Intellekt auf das Verhalten der Menschen zugreifen wollte. Der Vernunft wurde nicht zugetraut, das Verhalten zu bestimmen. Beispiele aus der Geschichte liessen ausserdem skeptisch werden gegen den Rigorismus einer Vernunftethik. So suchte man den Zugang über Institutionen, die sich nicht nur mit Normen an den Intellekt richten, sondern diese Werte bereits verkörpern. Damit können diese der neuen Generation auf eine Weise vermittelt werden, damit diese auch „können, was sie sollen“.

So kam es damals zu einer neuen Auseinandersetzung mit ethischen Konzepten, die nicht die «Moralität» der Gesinnung, sondern die objektive „Sittlichkeit“ in den Mittelpunkt stellten. Das Appellieren an Normen kommt immer schon zu spät. Die Menschen müssen auch in die Lage versetzt werden, demgemäss zu handeln. Das geschieht in der Sozialisation und Enkulturation, in der Erziehung, in der biographischen Prägephase. Die Ethik kann sich also nicht nur mit Normen befassen, sondern muss auch die Frage der Erziehung, der Familie, des rechten Staates etc. klären.

 

Der Fluss und das Flussbett
Zwischen den Normen und dem Verhalten stehen die Institutionen, die das Verhalten lenken. Sie sind wie ein Flussbett. Ist dieses einmal geprägt, kann man den Lauf des Flusses nicht ändern, mit allem Aufwand nicht. Will man, dass er anders läuft, muss man etwas am Flussbett ändern, d.h. an den Institutionen.

Ein solches Flussbett sind auch die Körper-Erinnerungen. Jetzt lässt sich das anders formulieren: Diese Erinnerungen sind Institutionalisierungen des Verhaltens, es sind Reiz-Reaktions-Schemata. Diese lenken nicht nur das Verhalten im Alltag, sie sind auch an biologischen Reifungs- und Werde-Prozessen beteiligt, wie bei der Geburt (oder beim Sterben). Sie steuern die Transformations-Prozesse, die wir in unserem Leben durchmachen, z.B. die Pubertät, die Wechseljahre, das Altern…

Diese Prozesse sind für unser Leben zentral. Es ist wichtig, dass sie gelingen. Aber mit dem bewussten Verhalten haben wir darauf kaum Zugriff, es sind Dinge, die „wie im Traum“ geschehen (die Träume geben uns Hinweise darauf, was im Tun ist). Wir müssen und können uns ihnen überlassen.

 

Stanislav Grof hat viel interessantes Material dazu beigetragen, wie solche Prozesse gesteuert werden. Für uns interessant ist es, weil er die Erfahrungen mit religiösen Mythen verbindet, die Ähnliches zur Sprache bringen. Er versucht, die Herkunft gewisser mythischer Bilder in einer konkreten Erfahrung zu verankern. Oder umgekehrt: Die Mythen werden als kollektive Bilder für Erfahrungen gesehen, die alle Menschen in gewissen Transformations-Prozessen machen, z.B. bei der Geburt.

 

(Aus einem Workshop an einem Pfarr-Kapitel 2008)

(Die angesprochene Debatte der 80er Jahre ist zusammengefasst in dem Buch „Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik“. Hg von Wolfgang Kuhlmann, Ffm 1986.)

 

Verstrickt

Das Verhalten kann sich «verkrusten» in äusseren Strukturen. Dann ist es kaum mehr zu ändern. Die Handlungen folgen dem Muster, das die Strukturen vorgeben, obwohl der Mensch inzwischen anders handeln will. So kann sich das Tun eines Menschen gegen ihn selber richten. Die Freiheit wird aufgehoben durch die Freiheit selbst. Und der gute Wille allein genügt nicht, wieder daraus hervorzukommen. Das lehrt nicht nur die Therapiebewegung, das ist auch eine Erfahrung in den grossen zivilisatorischen Krisen dieser Zeit. Diesem Gedanken bin ich in einem Gottesdienst zum Bettag nachgegangen.

Der Bettag in seiner heutigen Form ist nicht von Kirche und Pfarrern begründet worden, sondern vom Staat. Wenn eine Notzeit war, rief die Obrigkeit die Untertanen auf, zu Gott zu beten, damit er das Unheil abwende.

 

Beten auf Geheiss der Regierung
Dass das auch heute noch geschieht, haben wir diesen Sommer erlebt. Als es in Polen so stark regnete, forderte die Regierung die Bevölkerung zum Gebet auf. Und als das Feuer in Griechenland monatelang wütete, sprach die Regierung von einer „von Gott gesandten Plage“.

In der Presse ist das nicht gut aufgenommen worden. Wenn man Fehler gemacht habe, könne man sich nicht hinter Gott verstecken. In Griechenland habe der Staat versagt. Die Wälder wurden vernachlässigt, hiess es. Der Abfall blieb liegen und geriet in Brand. Ähnlich in den Überschwemmungs-Gebieten: Man habe Häuser in Risiko-Gebiete gebaut. Wenn diese überschwemmt würden, dürfe man nicht der Natur die Schuld geben.

 

Es sieht aus wie Natur
Tatsächlich kann man sich fragen, ob das „Natur“ ist, wenn Überschwemmungen wüten. Erinnern Sie sich an das Reaktor-Unglück von Tschernobyl? 1986 hat sich im dortigen Kernkraftwerk ein Unfall ereignet. Grosse Mengen radioaktiven Materials wurden in die Luft geschleudert. Danach konnte man am Fernseher verfolgen, wie sich die radioaktiven Wolken über Europa verbreiteten. Es sah aus wie „Natur“, es glich der Wetterkarte im Fernsehen, aber es war mensch-gemacht.

Als die Radioaktivität einmal freigesetzt war, konnte man sie nicht mehr kontrollieren. So dehnte sich die Tschernobyl-Wolke mit naturwüchsiger Gewalt über die Länder aus, dennoch war der Ursprung technisch. Es war eine Art Mischprodukt aus Naturgewalt und menschlicher Technik, eine „zweite Natur“. Aber die Schuld lag nicht bei der Natur, sondern beim Menschen.

Ähnlich ist es mit der heutigen Klimaveränderung. Sie geht auf menschliche Ursachen zurück, auch wenn die Folgen wie „Natur“ aussehen: wenn Wolken aufziehen, wenn es regnet. Das sieht aus wie die alte Natur, an die die Menschheit seit Jahrtausenden gewohnt ist. Aber es ist etwas Neues.

Das Fehlverhalten verdichtet sich manchmal zu einer „Zweiten Natur“ und spult sich dann ab, losgelöst von dem, was man will, und trotz des Widerspruchs, den man vielleicht einlegen möchte. Aber das System hat sich verselbständigt.

Die Freiheit des Menschen ist nicht aufgehoben, sie steckt da drin. Die Zweite Natur ist die Verkrustung alter Entscheidungen, es ist das alte Kleid, das wir uns selbst geschneidert haben, es sind die Schuhe, die früher passten. Aber heute passen sie nicht mehr, und wir müssen unsere Füsse in Schuhe zwängen, die drücken und beim Gehen schmerzen.

 

Verstrickt und lahm gelegt
Das ist nicht nur eine moderne Erfahrung. In der Bibel gibt es ein 2000jähriges Nachdenken über den Menschen: was ihn ausmacht, wie er lebt, was es braucht, dass es gut kommt im Leben und woher die Fehler kommen, die den einzelnen treffen, aber auch die ganze Gemeinschaft.

Im Verlauf dieser 2000jährigen Geschichte sieht man so etwas wie eine „Schuldvertiefung“. Anfangs drehte sich das Denken um die Fehler, die man im Moment macht. Wo ein böser Wille ist, geschehen auch schlechte Taten. Dann aber sah man, dass jene Fehler oft noch viel schlimmer sind, die beim besten Willen geschehen, wo wir aber wie verstrickt scheinen, so dass das Ergebnis doch schädlich ist für den einzelnen und für die Gemeinschaft.

Um diese Situationen zu bereinigen, braucht es nicht nur Vergebung, es braucht Heilung. Die Verstrickung selbst muss aufgehoben werden, die sich auch gegen den neuen, veränderten Willen des Menschen immer wieder durchsetzt. Der einzelne Mensch muss geheilt werden, die Gemeinschaft und die Natur des Menschen, die sich zu einer zweiten Natur gewandelt hat.

In der Zweiten Natur stecken die alten Taten des Menschen, aber sie haben sich verewigt, die neuen Taten kommen nicht dagegen an. Der beste Wille nützt nichts, man begeht Fehler. Wir werden objektiv schuldig, auch wenn wir subjektiv der besten Gesinnung folgen.

 

Der Bach gräbt sich sein Bett
Es ist wie ein Bach, der den Berg hinunter fliesst und sich einen Weg bahnt. Er gräbt sich selber ein Bett, wo er fliessen kann. Am Rand lagert er das Geröll ab. Zwischen diesen Ufern fliesst er. Zuerst ist es der Bach, der sich das Bett gräbt, aber später ist es das Bett, das bestimmt, wo der Bach fliessen kann. – Wer Herr ist und wer Knecht, wer befiehlt und wer gehorcht – das hat sich verkehrt. Wenn man der Welle sagt, ich will nach links, nützt das nichts. Man müsste das ganze Bachbett neu graben, um neue Wege möglich zu machen.

Diese Einsicht findet man auch im ersten Testament. Da klagen die Menschen: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf“ (Jer 31,29 und Ez 18,2). Die Vorfahren haben die Umwelt belastet, die Kinder baden es aus.

Mit dieser Einsicht vertieft sich auch das Nachdenken, was denn nötig ist, um einen neuen Weg möglich zu machen. Vergebung allein reicht wohl nicht, es braucht mehr.

„Gib uns ein neues Herz!“ beten die Israeliten zu Gott. Nimm uns das steinerne Herz, das tut, was wir nicht wollen. Gib uns ein fleischernes Herz, so dass wir tun können, was richtig ist, statt dass wir uns abmühen und ohnmächtig zuschauen, wie das Verkehrte entsteht. Und wir werden schuldig beim besten Willen!

Aus einem Bettags-Gottesdienst 2007

 

Zeichen und Worte

Was helfen Sakramente? Ich fange hinten an, bei den Erfahrungen, nicht vorne, mit einer Sakramenten-Lehre. (Als Pfarrer sind wir vielleicht ein Stück weit verbildet, weil wir immer wieder von der Antwort her feiern und kaum dazu kommen, den Weg selber zu finden.)

Wir Menschen kennen die Empfindung – es ist uns vielleicht nicht immer bewusst, aber im Lauf des Lebens taucht es wie eine Ahnung in uns auf: dass es so etwas wie eine Quelle gibt, wo wir uns anschliessen können. Wo das Leben herkommt, wo wir Kraft schöpfen können.

Wir spüren: Gewisse Dinge können wir uns nicht erkämpfen, wir können sie uns nur schenken lassen. Viele kennen auch den Moment, wo sie sich wie leer fühlen, sie können sich anstrengen wie sie wollen, es kommt nichts mehr. Es ist, als ob sie immerzu in einem leeren Kübel kratzten.

Da hilft es nichts, sich noch mehr anzustrengen. Da gibt es nichts, was wir erkämpfen können. Viel eher hilft uns hier ein anderes Bild: Es ist, wie wenn wir uns an einen Tisch setzen und teilnehmen. So können wir Teil haben an einem Geschehen, uns anschliessen an eine Quelle, angeschlossen sein an ein Grosses, Ganzes, das nicht aus uns kommt, aber wir aus ihm.

Hier wird die Feier zu einem Verhalten mit ganz eigenen Möglichkeiten. Sie kann nicht, was das «Machen» kann, sie kann nicht, was das «Denken» kann. Sie kann etwas anderes, aber Tun und Machen, Betrachten und Denken wirken mit und kommen in ein neues Gleichgewicht. Wir lernen uns neu verstehen, unsere Motivation wird erneuert, wir können neu auf die Situation zugehen.

Wir empfangen Vergebung – was die Vergangenheit unabänderlich verschlossen hat, wird aufgeschlossen. Wir vergeben anderen Menschen – die Zukunft, die verriegelt und verrammelt schien, wird aufgeschlossen.

(Aus einem Workshop an einem Pfarr-Kapitel 2008)

 

Sakramente – richtig feiern

Sakramente sind uns in der Reformierten Kirche fremd geworden, trotz der existenziellen Bedeutung, die sie früher hatten. Wie können wir sie feiern, dass sie wieder helfen auf dem Weg?

Sakramente sind Hilfen auf dem Weg. Sie haben ursprünglich eine grosse praktische Bedeutung für den Alltag und das Leben, auch wenn man das heute vielleicht nicht mehr glauben kann und das Gefühl hat, das seien altertümliche Relikte in Sonder-Gottesdiensten.

Wie können wir sie feiern, dass sie wieder helfen auf dem Weg?
Wie können Sakramente schon jetzt Anteil geben an dem, was sie dem Feiernden zusagen: die Gemeinschaft mit Gott?

Die archaische Zeit kannte Riten, in denen ein Menschen durch Trinken und Essen eine „Seelenreise“ antrat zum Ursprung der Welt und zum Ziel des Lebens. Von dort kam das „Wasser des Lebens“. Dort war der Zugang zur „Quelle“, aus der das Leben stammt, wo es unverlierbar gehalten ist. Dort fand er Unterstützung auf dem Weg.

Die Antike kannte einen „Göttertrank“, der Unsterblichkeit verleiht und einen Ritus, der den Feiernden aufnimmt in eine Gemeinschaft, wo er nicht mehr verloren geht, wo er neue Identität gewinnt.

Die Mysterienkulte der Antike zeigen, wie Adepten in eine religiöse Gemeinschaft eingeführt werden. Dabei wird das Fühlen betont, nicht das Lernen (nicht „mathein“ sondern „pathein“ war das Schlagwort). Dadurch soll sich das Neue, das der Glaube vermittelt, ins Körpergedächtnis einprägen, damit es hilft auf dem Weg.

Das wirft ein Licht auf das Verhältnis von Körper und Spiritualität und zeigt einen Weg für die Feier von Sakramenten.

 

Körper und Spiritualität
Die christliche Spiritualität hat in den letzten 20 Jahren die Diskussion innerhalb der Therapie-Bewegung aufgenommen. Dort wollte man weg von einer blossen „Rede-Kur“. Diese wird als ohnmächtig erlebt, sie bleibt nur im „Kopf“, während das Fühlen und Verhalten den alten Erfahrungen folgen, die im Körpergedächtnis abgespeichert sind. (Der Schreck sitzt einem noch „in den Knochen“. Man unterdrückt das Atmen, stellt sich tot – eine Haltung, aus der sich eine Depression entwickeln kann.)

Die im Körper gespeicherten Erfahrungen bestimmen die Haltung schon beim Aufstehen und sie haben Folgen für den ganzen Tag. Und man realisiert: „Christ“ ist man erst im Kopf, während der Unglaube noch in den Knien hockt. Vertrauen zu lernen, das muss durch den ganzen Körper gehen! Die Kontinente, die von der Mission noch nicht erreicht sind, liegen im eigenen Körper. Dabei helfen die Sakramente als Bindeglieder zwischen Fühlen und Denken, Kopf und Körper.

Hier ist das Vorgehen der Mysterienkulte interessant. Das Christentum hat seine Feiern in der Antike in Formen gekleidet, die in den Mysterienkulten vorbereitet waren. So wurde eine Taufe gefeiert als Ritual für die Aufnahme und ein Abendmahl für die Feier der Gemeinschaft. Die Gegenwart Gottes erlebte man im Gottesdienst.

Hier ist vieles zu lernen.

Aus dem Bericht über mein Sabbatical an die Kirchenpflege, 19. September 2007

 

Die Scham oder der Körper

Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. Das Kind fühlt sich wie tot.

 

Er heiligt das Verpönte
Der Körper gehört dazu, der Körper ist das andere Element im Sakrament. Jesus Christus als das Ursakrament ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Seine Herabkunft ist nicht nur theologisch, sondern auch praktisch wahrzunehmen. Und zwar die Herabkunft bis ans Kreuz, bis zu dem Ort der Scham und Schande draussen vor Jerusalem, dem unreinen Ort, wo er hingerichtet wurde, denn er wurde zu den Verbrechern gezählt. Ohne Kreuz kein Heil, ohne Herabkunft keine Auffahrt. Ohne Körper und Welt kein Himmel.

Scham und Schande sind geheiligt, es ist der Ort, wo Christus bei den verletzten Menschen ankommt und sie heilt. Es ist der Ort der Ankunft, wo das Heil geschieht.

Der Körper bewahrt in sich die Erinnerung an die Verletzung und er verkrümmt sich so, dass diese nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigt. Damit verewigt er sie aber im Gegenteil. Das Kind hat sich totgestellt, es hat den Atem angehalten, die Glieder eingezogen. So spürt es nichts. Wenn immer etwas an seine schmerzhafte Erinnerung rührt, nimmt dieser Mensch unwillkürlich diese Haltung wieder ein, der Atem stockt, der Körper erstarrt, die Empfindungen werden nicht mehr verspürt. – Das Kind fühlt sich wie tot.

 

Abschneiden der Lebendigkeit
Es hat für das Überleben die Lebendigkeit geopfert, sagt der Körperpsychologe Alexander Lowen. Damit aber auch die Spontaneität, das Verfügen über jene selbstverständlichen Verhaltensweisen, die es uns erlauben, uns zu bewegen, uns in ein Verhältnis mit uns selbst zu setzen und mit den Menschen rund herum.

Das Kind „verkrümmt sich“, habe ich gesagt. Das Wort bezeichnet in der theologischen Tradition die Erbsünde (incurbatum in se ipsum). Das hat nichts mit Sexualität zu tun, aus der oben geschilderten Erfahrung ist es eher eine in der Kindheit eingeübte Haltung, die für das Überleben alles andere opfert.

 

Die Kinderfresser-Religion
Das ist eine Art Kinderfresser-Religion, die dringend zu christianisieren ist. (Aus Angst ist der Mensch in sich verkrümmt, im Vertrauen auf das Evangelium kann er sich entfalten. Aber dieses Vertrauen, Glauben, verfällt immer wieder dem Zweifel. Der Weg durch den Köper hilft dem Glauben und dem Leben aus dem Glauben.)

In dieser Verkrampfung, in der das Kind sich totstellt, gerät auch die Sexualität in Feindschaft zum denkenden ängstlichen Ich. Es gehört zu den Empfindungen, die geopfert werden, die, wenn sie durchbrechen, Angst und Scham auslösen, weil die Deckung verlassen ist. Aber nur von Sexualität zu sprechen, verengt das Thema. Es ist das ganze Leben, das hier abgeschnitten wird.

 

Aus Notizen 2007

Das erwähnte Buch: Alexander Lowen, The betrayal of the body. Deutsch: Der Verrat am Körper. Bern und München 1980.

Foto von jonas mohamadi, Pexels