Kriegserlebnisse

Das Schöne, was wir im Leben erfahren, hilft mit, uns im Leben zu verankern. Jede gute Erfahrung sagt, dass wir willkommen sind auf dieser Welt. Jedes gute Gespräch lässt uns erleben, dass wir uns verständigen können und nicht allein sind. Und es sind viele gute Erfahrungen im Lauf eines Lebens, die sich schliesslich zu einer Art Grundvertrauen verdichteten. Und dieses sagt, dass wir in dieser Welt gehalten und geborgen sind.

Umgekehrt gibt es Erlebnisse, die uns am Leben zweifeln lassen. Es gibt Schicksals-Schläge, die uns so verletzten, dass dieses Vertrauen in eine Krise gerät. «Ist die Welt vielleicht ein finsterer Ort?» denken wir dann. «Weiss diese Welt überhaupt etwas von uns? Oder ist sie gleichgültig? Geht das Leben achtlos über uns und unsere Hoffnungen hinweg?» Es ist schwer, sich in dieser Welt gehalten und geborgen zu fühlen, wenn die Welt sich feindselig zeigt. Es ist schwer, Vertrauen zu haben, wenn dieses nicht von guten Erfahrungen gestützt wird. Und wo Vertrauen ist, kann dieses durch eine Reihe von Schicksals-Schlägen in eine tiefe Krise geraten.

Erlebnisse im Krieg
„Der tiefe Glaube hatte damals eine grosse Erschütterung erlitten“, so schreibt Anna, als sie von ihren Kriegserlebnissen berichtet. Auch viele Menschen in der Bibel machen diese Krise durch. Die Bibel verschweigt das nicht. Im Gegenteil, sie berichtet davon, weil diese Erfahrungen eine Hilfe sein können für Menschen, die ähnliches erleben. Ein solcher Bericht steht sogar im Zentrum der Bibel. Er beschreibt die Glaubens-Krise jener Menschen, die auf Jesus Christus vertraut hatten. Es ist die sog. Passionsgeschichte, und der Name klingt, als ob es etwas Vertrautes und darum Harmloses wäre. Aber die Passion beschreibt eine tiefe Krise.

Erwartung
Am Anfang dieser Passions-Erzählung ist noch alles, wie es sein soll. Jesus Christus hat Erfolg. Sein Ruf geht ihm voraus, viele Menschen folgen ihm, er ist berühmt. Und als es heisst, er werde in der Hauptstadt einziehen, säumen viele Menschen die Strasse. Die Erwartungen gehen ganz hoch: dass er in der Hauptstadt die Macht ergreift, dass er mit der alten korrupten Herrschaft aufräumt und dass eine Zeit des Friedens und des Glücks beginnt.

Das war am Palmsonntag, als er in Jerusalem einzieht. Aber kaum ist er dort angekommen, beginnt die Verfolgung. Gerade weil er so viel Erfolg hat im Volk, fürchten die Mächtigen um ihren Einfluss. Und sie suchen Vorwände, um ihn anzuschwärzen und aus dem Weg zu räumen.

Enttäuschung
Jetzt ist es nicht mehr ungefährlich, sich mit ihm einzulassen. Und die Hoffnung auf einen schnellen Erfolg, wird enttäuscht. Die Bewegung um Jesus bröckelt ab. Und einer nach dem andern, die vorher mit ihm zogen und ihre Hoffnung auf ihn setzten, bleibt jetzt weg. Schliesslich wird er gefangen genommen. Man macht ihm den Prozess.

Jetzt ist klar, wer stärker ist. Die meisten kehren ihm jetzt den Rücken. Nur einige Getreue halten noch bei ihm aus. Petrus wartet vor dem Gerichtsgebäude und wärmt sich bei andern an einem Feuer. Da tritt eine Magd zu ihm und fragt ihn: „Bist du nicht auch einer von ihnen?“ Da verleugnet er ihn. Er fürchtet um sein Leben Und ehe der Hahn gekräht hat, hat er ihn drei Mal verleugnet.

Ganz gebrochen ist der Einfluss eines Menschen erst, wenn man ihn der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Sie schmücken Jesus als König und verspotten ihn. Und noch am Kreuz lachen sie ihn aus: „Wenn du der versprochene Retter bist, dann rette dich selbst!“ Steig vom Kreuz, dann glauben wir dir!

Spott
Steig vom Kreuz, dann glauben wir dir! Es ist brutaler Spott, aber es stimmt: Uns Menschen fällt es schwer, an etwas zu glauben, das keinen Erfolg hat. Und sogar, wenn wir vorher selber noch unsrer Hoffnung auf etwas setzten – wenn es derart scheitert und wenn alle Welt darüber lacht, wer wird dann die Hoffnung nicht fahren lassen? Wir Menschen können nicht vertrauen, wenn unsere Hoffnung nicht eingelöst wird. Wir können nicht glauben, wenn die Welt sich uns feindselig zeigt und wenn ein Unglück zu beweisen scheint: es gibt keinen Gott!

Das zeigt auch der Bericht über die Passion Jesu. Da werden die Menschen, die an ihrem Glauben verzweifeln, nicht abgewertet. Es ist einfach so; so ist es mit den Menschen. Darum ist das auch ein wichtiger Teil der Passions-Erzählung, und sie wird auch darum erzählt, um uns Menschen darauf eine Antwort zu geben: Wo ist Gott, wenn wir ein Unglück erleben? Ist Gott kraftlos oder ohnmächtig? Gibt es überhaupt einen Gott?

Gibt es diesen Gott überhaupt?
Im Glück fragen wir nicht so. Im Erfolg fällt es uns leicht, zu glauben. Wenn das Leben schön ist, verspüren wir oft eine unendliche Dankbarkeit, z. B. bei einer Geburt. Da möchten wir Danke sagen und wissen nicht wem. Denn ein Mensch hat uns dieses Glück nicht geschenkt. Dann empfinden wir wie eine Ahnung von Gott. Im Glück fällt es uns leicht, zu glauben. Aber im Unglück?

Die Geschichte von der Passion Jesu gibt uns keine Argumente. Sie will uns nicht überreden und von nichts überzeugen. Sie erzählt einfach die Geschichte, wie es weiterging mit diesem Menschen, der an Gott glaubte. Hat er ihm geholfen?

Anfangs hatte er durchaus Erfolg, und das erregte den Neid der Mächtigen. Er kam ihnen in die Quere. So setzten sie ihm zu, treiben ihn in die Enge, bis sie ihn zur Strecke brachten. Und sie spotten, wie es in der Bibel heisst: „Er hofft ja auf Gott, so soll der ihm helfen. Er soll ihn retten, wenn er Gefallen an ihm hat.“ (Ps 22,9). „Er rühmt, dass der Gerecht am Schluss Recht behalten werde. So lasst uns doch sehen, ob sein Wort wahr wird. Lasst uns prüfen, was bei seinem Ende geschehen wird!“ (Weisheit Salomos, 2, 16f). Und sie verfolgen ihn erst recht.

Die Geschichte der Passion erzählt nüchtern, was geschieht, Station auf Station. Und am Schluss steht das Kreuz. Was jetzt? Ist jetzt bewiesen, dass es keinen Gott gibt? Warum steht der Bericht dann in der Bibel? Warum steht er in der Mitte des christlichen Glaubens?

Unter dem Kreuz
Unter dem Kreuz wird etwas spürbar. Wenn die Wut und die Rachsucht der Verfolger gestillt sind, wenn Neid und Hass sich ausgetobt haben, wenn die Leidenschaften still geworden sind, wird etwas spürbar:

  • Was die Welt trägt, ist nicht der Mensch.
  • Der Mensch, die Mächtigen dieser Welt, können zwar den Tod verfügen, aber sie schaffen das Leben nicht.
  • Mit Verrat und mit Zeugen, die man gekauft und bestochen hat, kann man zwar einen Prozess gewinnen. Aber auf Unrecht kann man keine Gesellschaft aufbauen. Das können wir auch heute wieder nachprüfen in allen Krisengebieten dieser Welt. Ohne Recht und Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden und ohne Frieden kein Zusammenleben.
  • Das, was alles trägt, ist nicht der Mensch, das ist etwas, das ganz still wirkt, im Verborgenen. Das ist etwas ungeheuer Demütiges.
  • Und auch das ist eine Ahnung von Gott, ähnlich wie wir sie verspüren in der Dankbarkeit, wenn wir etwas Schönes erleben und genau wissen: wir haben es nicht gemacht. So spüren wir auch jetzt unter dem Kreuz, wenn alles aufhört, was menschenmöglich ist: da ist etwas, was Welt und Leben trägt.

Die Kraft in der Schwachheit
Das hat auch der Apostel Paulus erfahren, den Anna in ihrem Lebensbericht zitiert. Auch Paulus konnte erst nur auf einen Gott vertrauen, der Erfolg verleiht. In etwas Schwachem konnte er Gott nicht erkennen. Und so gehörte auch er zu denen, welche die Christen verfolgten. Aber dann begriff er, dass auch Erfolg nicht alles machen kann. Und das Allerwichtigste müssen wir uns schenken lassen, so wie Liebe, Zuneigung und das Leben selbst. Und jetzt erkennt er ausgerechnet im Weg dieses schwachen Menschen, der gescheitert scheint, die Kraft Gottes. Er findet sie im Weg von Jesus Christus.

Er entdeckt diese Kraft, die trägt. Und er schreibt in seinem Brief, den auch Anna zitiert: „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefässen, damit die Grösse der Kraft, die alles überragt, Gott angehöre und nicht von uns stamme.“ Wir können in unserem Leben auf diese Kraft vertrauen, sagt Paulus. Es ist wie ein «Schatz» für das Leben. Aber dieser Schatz steckt in tönernen Gefässen, diese können leicht zerbrechen. Aber selbst wenn eine Hoffnung zerbricht, dürfen wir auf diese Kraft vertrauen. Denn letztlich trägt sie, auch wenn unsere Bilder zerbrechen, unsere Auffassungen, in welcher Form die Hilfe zu geschehen habe. So sagt er:

„Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefässen, damit die Grösse der Kraft, die alles überragt, Gott angehöre und nicht von uns stamme. In allem werden wir bedrängt, aber nicht in die Enge getrieben, in Zweifel versetzt, aber nicht in Verzweiflung, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht vernichtet.“

Das Vertrauen auf diese Kraft kann zu einem Weg werden. Wir können lernen, uns tragen zu lassen. Wir können alles, was uns beschäftigt, Gott übergeben und uns führen lassen auf unserm Weg.

 

Aus Notizen 2003 (zu einer Beerdigung)
Foto von Ahmed Akacha, Pexels