Der Herr der Geschichte

In Babylon hatten sie alles verloren: das Land, das gemeinsame Zusammenleben als Volk, den Staat, den König. Wie sollten sie jetzt Gott anrufen, als Hilfe in ihrer Situation? Wie kann der Gott, der zuhause in Jerusalem in seinem Tempel wohnt, ihnen hier, in der Fremde helfen?

Sie lernten, Gott grösser zu denken: nicht nur als einen Gott des Landes, nicht nur als einen Gott für ein Volk. Er war – so begriffen sie jetzt – ein Gott für alle Völker und für alle Länder. Seine Kraft geht durch das ganze Universum.

Für uns heute ist es etwas Selbstverständliches: Gott universal zu denken. Für das Altertum war es eine Entdeckung. Die Bilder von Gott wuchsen in dem Mass, wie auch das Handeln der Menschen weiter ausgegriffen hat.

So ist der Schöpfer-Gott spät in die Bibel gekommen, auch wenn er heute schon im ersten Buch der Bibel zu finden ist. (Dort wird die Schöpfung erzählt.) Aber dass Gott über den Kosmos regiert, das hat das Volk Israel erst spät entdeckt.

So konnten sie im Ausland, in Babylon, Gott anrufen. Sie konnten nicht nach Jerusalem in den Tempel gehen. Aber Gott, wie sie ihn jetzt begreifen lernten, wohnt nicht in Häusern. Der Himmel ist sein Tempel und die Erde sein Thron. Ja, Himmel und Erde sind sein Werk. Und alles, was uns zwischen Himmel und Erde widerfährt, ist in seiner Hand.

Und wenn jemand in Not war, konnte er Gott anrufen als Herrn der Schöpfung. So macht es auch das Volk Israel, wie das Buch Jesaja erzählt. Sie fordern Gott auf, er soll eingreifen – wie am Anfang der Zeit. Er soll sein Volk retten mit seiner Schöpfermacht.

«Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn! Wach auf, wie vor Alters zu Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der den Chaos-Drachen durchbohrt hat? Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, dass die Erlösten hindurchgingen?» (Jes 51,9f)

 

Aus Notizen 2011
Foto von Pritam Kumar von Pexels