Wenn Freiheit sich aus Unfreiheit erhebt

In Krieg und Krisen, wenn die Entwicklung in eine verhängnisvolle Richtung zu laufen scheint, wenn man sich gefangen fühlt in unguten Zwängen, wird oft – in einem paradoxen Umschlagen der Empfindung – in der grössten Enge die Freiheit wiederentdeckt. Diese Freiheit findet sich nicht in der Befreiung von Zwängen, das ist jetzt nicht möglich, sondern im Gegenteil, in der freien Übernahme der äusseren Umstände. Diese werden aber nicht mehr als Bedingungen verstanden. Der Mensch kann sich entscheiden, er besitzt eine Freiheit, die durch keinen äusseren Zwang aufgehoben werden kann. In der Übernahme seiner Situation ergreift er sich selbst und bringt sein Leben zu wahrer Existenz.

Das ist die Auffassung der Existenzphilosophie, die zwischen den Weltkriegen grosse Beachtung fand und die in Krisenmomenten vielfach zu einem Revival kam, aber auch zu Vorläufern in früheren Krisenzeiten.

Selbstverständnis in der Krise
Der Existenzbegriff geht zurück auf die mittelalterliche Philosophie. Diese sprach von „Essenz“ und „Existenz“. Nach Auffassung der Existenz-Philosophie ist der Mensch im Unterschied zu anderen Wesen in seiner Eigenart nicht festgestellt, er kann selber bestimmen, was er ist und wie er sich verstehen will. Nicht die Essenz (das Was-Sein) bestimmt den Menschen, sondern die Existenz (sein Dass-Sein).

Zu wirklicher Freiheit wird seine Selbstbestimmung aber erst, wenn er das, was ihm vorher per Zwang zukam, jetzt aus Freiheit übernimmt. So ist die Rede von der menschlichen Freiheit in der Existenz-Philosophie eine Rekonstruktion der biblischen Kreuz-Erzählung und der Aufforderung Christi, sein Kreuz auf sich zu nehmen, um das wahre Menschsein zu erlangen.

Der Fortschritt wendet sich gegen seine Urheber
Der Theologe Rudolf Bultmann hat sich in den 50er Jahren intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Er fühlte sich damals der Geschichte „ausgeliefert“. (Ich zitiere aus meiner Arbeit „Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann“). Geschichte, sagt Bultmann, wird in dieser historischen Situation nicht nur als fremde Macht empfunden, sondern als eine Resultante menschlichen Handelns, das sich gegen seinen Urheber selber kehrt. (Viele Menschen werden das heute nachempfinden angesichts des selbstverursachten Klimawandels.)

Bultmann äussert sich so im Jahr 1951; sechs Jahre zuvor hatte der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima und Nagasaki 152.000 Tote und 150.000 Verletzte gefordert, was den Schrecken dieser Waffe demonstrierte. Umso grösser der Schock der westlichen Welt als die Sowjets 1949 ebenfalls die A-Bombe bauten.

Kalter Krieg
Wegen der sowjetischen Doktrin der Weltrevolution und der amerikanischen Eindämmungspolitik war die zuvor bestehende Verbindung beider Mächte im Zweiten Weltkrieg auseinandergebrochen und hatte dem „Kalten Krieg“ Platz gemacht. Die Welt erstarrte in einem „Gleichgewicht des Schreckens“; Geschichte wurde immobil sie schien in einen Zustand geführt zu haben, der auch die Bewegungsfreiheit jener begrenzte, die über diese Waffe verfügten.

Eigentliches Leben, „true existence“
Geschichte führt nach Bultmann auf diese Weise in Konflikte, die in Geschichte nicht mehr oder nur tragisch zu lösen sind. Er fragt, ob der Mensch dem geschichtlichen Wechsel „ausgeliefert ist wie ein Ball dem Spiel der Wellen? Oder ist es so, dass er, wenngleich ohnmächtig, doch er selbst, eine eigene Person, ist, die sich diesem Wechsel überlegen fühlt in dem Bewusstsein, „true existence“ zu haben, sie zu bewähren, ja geradezu sie zu gewinnen im Kampf mit dem Schicksal, gerade auch im Untergang?“

Für den Theologen Bultmann bot diese Erfahrung eine neue Möglichkeit, die Predigt Jesu vom nahen Reich Gottes zu verstehen. Damals war der apokalyptische Charakter der Predigt Jesu herausgestellt worden. Die apokalyptische Vision einer atomaren Zerstörung der Welt liess die Politik als handelndes Verändern in der Geschichte erstarren.

Sich verstehen
Die erstarrte Welt lässt sich nicht in eine wahre verbessern, sie lässt sich nur übersteigen in einer Hingabe an den weltüberlegenen Gott, der dem Gläubigen analoge Weltüberlegenheit vermittelt, so dass er erst in einem paradoxen Akt des „trotzdem“ sein Leben in dieser Welt wieder bejahen und „verantworten“ kann. Dabei bedeutet dieses Verantworten aber eben nicht handelndes Verändern, sondern Selbst-Übernahme, so wie Adam nach der Ursünde die Folgen seines Tuns ertragen und so „verantworten“ muss, obwohl er sie nicht mehr beheben kann. Erst in der gläubigen Hinwendung zu Gott, der die Folgen behebt, gewinnt er wirkliche Freiheit, die aber noch nicht „im Fleisch“ erscheint, sondern erst einen Vorschein im Glauben ermöglicht.

Der Gefangene
Ein Ausgangspunkt von Bultmann war die Frage, „ob unsere persönliche Existenz noch einen wirklichen Sinn hat, wenn unsere eigenen Taten uns sozusagen nicht angehören“. Er findet die Antwort in der Formel von der „paradoxen Identität“ und meint, dass diese Lösung vielleicht am besten verstanden werde „von einem, der sich im Elend der russischen Gefangenschaft befindet“.

Dem Verschleppten und Gefangenen sind alle Möglichkeiten des Handelns abgeschnitten. Sich durch konkrete Aktion befreien zu wollen, erscheint sinnlos: Hat er den Stacheldraht des Lagers überwunden, erfriert er in der sibirischen Tundra. Das Lager ist ein Ort, der ihm immerhin noch Leben erlaubt, wenn auch in „falscher Form“. Was sein Leben äusserlich erhält, ist zugleich das, was es innerlich zutiefst gefährdet. Dass ihm eine „persönliche Würde“ zukomme, kann er an seinen Erfahrungen nicht mehr ablesen: seine Individualität ist zu einer Nummer in der Gefangenen-Statistik geschrumpft, sein Tod wird als „Exitus“ verbucht, der Nächste wartet schon, ihn zu ersetzen. Das Lager rettet sein Leben und bedroht es zugleich.

Würde
Dass seinem Leben eine individuelle Würde zukomme, das wird von seinen Erfahrungen Schritt auf Schritt widerlegt, daran kann er nur festhalten, wenn er es seinen Erfahrungen entgegenhält, in einem trotzigen und kontrafaktischen „Dennoch“, das nie eine Chance hat, in den täglichen Erfahrungen einen Widerhall zu finden. Seine „Würde“ – das lebt nur in einem Glauben, nicht in einem Wissen.

Und dieser Glaube könnte nie als eine Art Lebensweisheit gebildet werden, indem die Erfahrungen des Alltags zu einem „Weltbild“ verdichtet werden. Dieser Glaube ist ein total Anderes zu dieser Welt und zu allen Bildern, die diese Welt ihm nahelegt. Dass seinem individuellen Leben Würde zukomme, das kann der Kriegsgefangene nie erfahren, es sei denn, dass eine Stimme von aussen ihm das sagte.

Der Dialog am Kreuz
Sollte in dieses Lager eine Bibel geschmuggelt werden, so würde dieser Gefangene immer und immer wieder eine Stelle lesen, weil er dort seine Situation und seine Hoffnung vollkommen wiederfände: den Dialog am Kreuz (Lk 23, 39ff).

Und mit Bultmanns Gefangenem findet auch Bultmanns Modell hier eine vollkommene Entsprechung. Im Wort des „irdischen Jesus“ kommt der „gepredigte Christus“ zu den Schächern. ER selbst ist bei ihnen, sie stehen vor der Entscheidung, ob sie IHN, das Wort, annehmen wollen, oder nicht; und dieser Entscheidung kommt absolute Bedeutung zu. ln dieser Entscheidung scheiden sich alte und neue Zeit, darin scheidet sich, was zur Welt und was zu Gott gehört. Auf diesem Kreuzweg sagt der eine Schächer „Nein“, der andere „Ja“. Und Christus spricht dem Glaubenden zu: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“

Dieses Kreuz ist der einzige Punkt, wo Bultmanns Ausgangspunkt nicht tragisch wird: wo das Schicksal den Menschen im selben Augenblick „erhebt, wenn es den Menschen zermalmt“. Wenn der verzweifelte Gefangene davor steht, die Sicht der Sieger zu übernehmen und sich selber nur als Nummer zu sehen und wenn er widersteht, indem er den Glauben an seine Würde hochhebt, widerspricht er allem, was ihn vernichtet. Er widersteht, ist doch noch nicht ganz besiegt, ist selber Sieger, wenn auch nur in diesem mentalen Akt, wo er sich „überlegen fühlt in dem Bewusstsein, ‚true existence‘ zu haben, sie zu bewähren, ja geradezu sie zu gewinnen im Kampf mit dem Schicksal.“

 

Foto von lil artsy, Pexels

 Der Blogbeitrag stützt sich auf meine Arbeit: „Glaubenssprache angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen – ein Gespräch mit Bultmann und Moltmann.“ Dort sind auch die Zitate aus Bultmanns Schriften nachgewiesen.  Die Arbeit findet sich auf der Menü-Leiste unter Downloads.

Beachten Sie die Blogbeiträge «Umdenken – ein religiöser Begriff macht Politik“ und «Umkehren – was soll das sein?“