Odysseus im Adventskalender

Unsre Zeit liebt den Wettbewerb: Wer als erster durchs Ziel geht, der hat gewonnen. So werden überall Wettrennen veranstaltet. Die ersten drei stehen auf dem Podest, von den andern erfährt man nichts. Dabei wäre es doch auch interessant, was die andern erleben. Wie findet man seinen Weg im Leben? Was hilft dabei? Und was tut man, wenn etwas dazwischenkommt? Und was hilft in den dunklen Momenten, wenn man meint, es gar nicht mehr zu schaffen? Diese Frage hat die Menschen schon immer beschäftigt. Seit ältester Zeit finden sich Geschichten, die fragen, was der Weg des Menschen ist, und wie er ans Ziel kommt.

Der Überlebende
Auf den ältesten sumerischen Keilschrift-Texten aus dem 3. Jahrtausend vor Christus wird erzählt von dem sagenhaften Menschen Uta-napischti. Er lebte noch vor der grossen Flut, die später als Sintflut in die Bibel eingegangen ist. In der Bibel heisst er später Noah. Er ist der Einzige, der jene Sintflut überlebt hat. Er ist der letzte der alten Menschheit und der erste des neuen Menschengeschlechts. In seiner Geschichte wird beantwortet, wie der Mensch seinen Weg findet – durch alles hindurch. Was tue ich, wenn das Leben sich um mich aufbäumt wie eine Flut, wenn das Wasser mir über den Kopf geht? Wenn eine ganze Welt zugrunde geht? – Ich will die Antwort dieser Geschichte noch nicht vorwegnehmen.

In den alten Hochkulturen des Zweistromlandes wurde die Geschichte später weiter ausgesponnen. König Gilgamesch von Ur wollte nach der grossen Flut die zerstörte Zivilisation wieder aufbauen. Er wollte eine Gemeinschaft stiften, wo die Menschen in Frieden zusammenleben. Und er fragte nach der Ursache des Leidens, er suchte eine Antwort auf den Tod. Denn dieser ist es, der die Kraft des Menschen begrenzt, darum kann der Mensch sein Schicksal letztlich nicht selber in die Hand nehmen, er bleibt abhängig und fremden Geschehnissen unterworfen. Beim besten Willen kann er sich nicht zum Herrn seines Geschickes machen.

Gilgamesch sucht Ur-napischti
Der Weg des Menschen bleibt unvollständig ohne eine Antwort auf diese Frage. Darum macht sich König Gilgamesch auf den Weg. Er sucht Ur-napischti, diese Noah-Gestalt. Er ist der einzige des alten Geschlechts, der den Untergang überlebt hat. Er ist der Ur-Weise, der Antwort hat. Gilgamesch reist durch die ganze Welt, besteht viele Abenteuer, bis er weit im Westen an das Tor kommt, wo die Sonne untergeht. Und er geht durch das Tor hindurch in die Unterwelt, er geht, bis er zu Noah kommt, und stellt ihm seine Frage nach der Quelle des Lebens. Wieder will ich die Antwort nicht vorwegnehmen. Sie ist durch die ganze Antike hindurch wiederholt worden, und sie findet sich auch in der Bibel. Sie steht in der Geschichte Noahs. Es ist ein Satz. – Aber auch den will ich hier nicht wiedergeben. Was wäre das für eine Suche, wenn die Antwort schon am Anfang gegeben wäre?

Odysseus muss reisen
Die Frage nach dem Weg bleibt lebendig. Gibt es einen Weg, der ans Ziel führt? – Die Sieger im Wettbewerb zeigen, dass einzelne es schaffen. Den besten gelingt es. Aber wie ist es mit denen, die in diesem Rennen nicht mithalten können? Diese Frage hat die Menschen immer umgetrieben. Und die alten Griechen haben sie zugespitzt. In der Geschichte von Odysseus zeigen sie einen Menschen, der kein Glück hat. Er ist im Gegenteil vom Unglück verfolgt, sei es, dass er unschuldig in eine Schwierigkeit gerät, sei es, dass er sich selber schuldig gemacht hat. Denn das gehört zum Leben des Menschen dazu, dass er sich immer wieder schuldig macht. Gibt es trotzdem für ihn ein Ankommen nach dem Weg?

Odysseus ist der unglücklichste der Menschen – aber das freut die Menschen, die seine Geschichte hören. Denn an seiner Geschichte wird die Frage abgehandelt: ob es nur für Glückspilze eine Lösung gibt im Leben, für Reiche, Schöne und Begabte. Oder ob der Mensch, ob jeder Mensch Hoffnung haben kann. Und so treiben sie Odysseus mit einer wahren Lust von Unglück zu Unglück. Wenn er dem Strudel der Skylla ausweicht, gerät er in den Schlund von Charybdis.

Wenn es für ihn einen Weg gibt, dann gibt es ihn für alle Menschen. Dann gibt es Hoffnung. Und die grösste Sorge der Menschen ist beruhigt: dass die Welt nicht irgendwann einen bodenlosen Schlund auftut, wo der Mensch in der Tiefe verschwindet.

Gibt es den Weg, der ans Ziel führt?
Ist jetzt genug Spannung aufgebaut um zu verstehen, was es bedeutet, wenn Christus von sich sagt: Ich bin der Weg!? Die Lösung der alten Menschheitsfrage! Jede Kultur hat sie gestellt, jeder Mensch steht im Leben einmal davor. Weihnachten erzählt die Antwort. Aber noch ist es Advent, noch ist der Weg nicht im Ziel.

Am Ende des Weges geschieht noch Entscheidendes. Da werden Fragen beantwortet. Aber gehen wir Schritt für Schritt. Hören wir zuerst die Antwort, die Gilgamesch erhält: Er findet nach vielen Abenteuern den alten Weisen. Und der sagt ihm, er soll aufhören, nach der Unsterblichkeit zu suchen. Er soll die Menschen schützen, die ihm als König anvertraut sind. Er soll nicht nur die Stadtmauern wieder bauen, um die Zivilisation wieder zu beleben. Er soll auch den Gottesdienst wieder einführen. Dann finden die Menschen wieder zu dem glücklichen Geben und Nehmen, das Gott und die Menschen verbindet.

Und wie heisst jener Satz, den die Bibel zum Weg Noahs sagt? Warum ist er in der Arche gerettet worden? Warum ist er dem Tod entgangen? Was ist die Antwort auf die Endlichkeit des Lebens, das Lebenselixier, das Gilgamesch gesucht hat? Die Bibel sagt: „Noah aber hatte Gnade gefunden vor dem Herrn.“ (Gen 6,8) Dieser Satz taucht ähnlich auch in der Weihnachtsgeschichte auf. Der Engel geht zu Maria und begrüsst sie mit dem Satz: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott!“

Gnade ist die Antwort, die die Bibel uns gibt. Ein altmodisches Wort. Es ist die Antwort, die die ältesten Kulturen gefunden haben. Gnade – es ist nicht möglich, dass der Mensch sein Schicksal je selber ganz in die Hand nehmen kann. Denn er hat sich nicht selbst geschaffen. Er lebt von so vielem, was vor ihm da war. Nur schon, wenn man die Sonne wegdenkt, ist Leben nicht möglich. Das wird der Mensch nie in der Hand halten. Aber sein Leben ist getragen. Was er nicht herstellen kann – es wird ihm geschenkt. Was er nicht beherrschen kann, es naht sich ihm dienend. Es ist Gnade.

Das ist die Antwort auf die Endlichkeit des Lebens, das Lebenselixier, das Gilgamesch gesucht hat. „Hör auf, dein Schicksal selber kontrollieren zu wollen, vertrau auf die Liebe, die dir begegnet.“

Der Bote aus der Mitte
So verdichtet sich die Antwort auf die Frage des Menschen in diesem Bild, wie aus der Mitte der Wirklichkeit ein Bote zu Maria kommt und sagt: „Fürchte dich nicht, denn du hast Gnade gefunden bei Gott!“ Es ist die Botschaft von Weihnacht, dass vom Ursprung her einer zu uns kommt: Jesus Christus. „Fürchte dich nicht, denn du hast Gnade gefunden bei Gott!“

Und jeder Mensch darf sich gemeint fühlen, denn er kennt uns. Das ist wichtig, daran hängt es oft, dass wir die Weihnachtsbotschaft nicht hören können: weil wir nicht glauben können, dass es sich auch auf uns bezieht. Darum möchte ich zum Schluss noch mal kurz auf die Geschichte von Odysseus blicken.

Als Odysseus am Ende seiner langen Reise zu Hause ankommt, erkennt ihn niemand. Seine Abenteuer sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Seine zehnjährige Irrfahrt hat ihn verändert. So geht er als König unerkannt durch sein Reich. Er sieht das Unrecht, das eingerissen ist, die Not der Menschen, die auf seine Rückkehr hoffen.

Sein alter Hund erinnert sich noch an ihn, er kommt ihm entgegen. Auch seine alte Amme, die ihn an der Brust getragen hat, lässt sich nicht täuschen. Die, die ihn lieben, erkennen ihn. Andere wollen ihn nicht kennen. Sie haben seinen Platz eingenommen, sie glauben es sei alles erlaubt, wenn der König nicht da ist. Ihnen offenbart er sich, als König und Richter, und er stellt das Recht wieder her.

Der Weg des Menschen
Die Geschichte von Odysseus ist wie ein Spiegel, sie zeigt den Weg des Menschen. Es ist eine Deutung, wie es dem Menschengeschlecht ergeht. Sie zeigt den Menschen auf einer langen Irrfahrt auf dem Weg nach Hause. Aber er findet nicht hin, weil er seine Heimat vergessen hat. Er versucht, das Leben selber in der Hand zu halten, aber es gelingt ihm nicht.

Auf dem Weg hat er sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das Bild, das Gott am Anfang in ihn hineingelegt hat, ist nicht mehr zu sehen. Aber die Liebe erinnert sich, sie trägt ein Bild in sich. Und wenn sie den andern sieht, erinnert sie sich an das bessere Bild von ihm und kommt ihm entgegen. Durch die Erfahrung dieser Liebe wacht auch bei ihm die Erinnerung auf. Die Liebe verwandelt ihn zu dem Menschen, der er ist, der er eigentlich wäre, den Gott mit ihm gemeint hat. Die Liebe erneuert das Bild, das Gott anfangs in den Menschen gelegt hat, als er sagte: „Nun lasst uns Menschen schaffen, nach unserem Bild und Gleichnis.“ (Gen 1,26)

Er versteht sich selber nicht
So geschieht Erlösung durch die Liebe: Gott sieht den Menschen, der herumirrt auf seinem Weg. Der Mensch ist auf einer Suche und versteht sich selber nicht. Er ist wie ein Liebender, dem das Gegenüber fehlt. Es fehlt ihm das Du, an dem seine Sehnsucht Erfüllung findet. Es fehlt ihm das Du, wo seine Unruhe still wird. – Gott kommt dem Menschen entgegen, er lässt ihn nicht verirren auf seiner Odyssee.

So endet die Geschichte von Odysseus wie die Bibel mit dem Ausblick auf einen ewigen Liebesbund, der Gott und Mensch vereint. Da sind die Grenzen aufgehoben, der Mensch tritt in die Mitte, er wird verwandelt und versöhnt, Schuld wird vergeben und Verletztes geheilt, Verlorenes wird gefunden, der Mensch findet zum Quell des Lebens.

 

Aus Notizen 2007
Foto Odysseus im Schiff