Weihnachten als „Filiale“ von Ostern

Bald beginnt die Vorbereitung der Weihnachts-Anlässe. Ich will Weihnachten nicht als etwas behandeln, das automatisch kommt wie der Frühling. Vorher ist ein gewaltiges Gebirge zu überqueren. Und es ist nicht sicher, ob man es schafft. Das sind die Ereignisse um die Passion.

Dazu muss ich nur auf die Zeit schauen: Viele Menschen sind aufgewühlt, ganze Völker sind in Bewegung („arabischer Frühling“, Kämpfe in Libyen und Syrien, Tsunami- und Atom- Katastrophe in Japan, Finanz- und Schuldenkrise…)

Ich will Weihnacht aus der kirchlichen Folklore herausnehmen, den Ereignischarakter herausstellen und so von den Propheten her zu Weihnachten kommen. Sie nicht verniedlichen, wie die Engel, die zu Putten werden und ihre Schrecken verlieren. Ihr Trompeten-Ruf dringt durch Mark und Bein.

Die Fragen zu den Antworten
In der Passion tauchen die Fragen auf, die an Weihnachten beantwortet werden. Beides gehört zusammen. Weihnachten ist eine „Filiale“ von Ostern. Das Weihnachts-Fest kam viel später, es hat den Inhalt seiner Heilsbotschaft von Ostern her. Die Botschaft scheint hier weniger anstössig: Da wird ein Kind geboren, das kann man leichter glauben. Das ist nicht wie ein Toter, der aufersteht. Aber so ist Weihnachten missverstanden. Da wird nicht ein Kind geboren, sondern Gott wird Mensch. Der Unendliche tritt durch die schmale Pforte einer Geburt und macht sich zum Menschen. Was die Pforte auch umgekehrt öffnet.

Die Pforte
Der kleine, sterbliche und zerteilte Mensch, der am Grabenrand blüht wie eine vergessene Pflanze neben der Autobahn: dieser Staub, dieser Weggeworfene und Geschundene und von hundert Wagen Überrollte, dieser Vergessene, von seinen eigenen Artgenossen Verratene – er findet eine Pforte, von der niemand mehr etwas wusste. Das Wissen davon ist unter den Menschen ausgestorben.

Als er in seiner Zerstörtheit seine tägliche Strasse runtergeht, ist da plötzlich eine Türe, wo niemals eine war. Sie ist nur angelehnt. Er stösst dagegen, sie geht auf, sie öffnet sich in einen Garten. Er geht hinein – dumm und blöd, wie er in seinem Elend ist, kann er nicht mehr klar denken – und findet sich in einem Garten wieder. Da ist es, da ist die Mitte. Da ist das Licht, die Wärme. Und eine Erinnerung überkommt ihn wie aus der Zeit seiner Geburt, vor der Geburt. Es weht ihn an wie aus unvordenklichen Zeiten, und es bringt Schauer mit sich, Erschütterung – und Er ist da.

Die Mitte
Die Worte fehlen, aber eine Erinnerung schenkt ihm Kraft und Freude: die Erinnerung an Jesus Christus, wie er ihn kennt aus den Evangelien. Er sagte, wenn er einen Kranken heilte: „Tritt her in die Mitte!“ So tritt auch er in die Mitte. Und es ist Gebet. Alles andere würde ihn zerreissen. Im Beten bleibt er.

Und nach unendlicher Zeit kehrt er zurück. Durch die Türe, durch die Pforte. Durch den Engpass in die enge alte Welt. Aber es ist kein Alltag mehr. Es dröhnt ihm noch in den Ohren. Die Augen sind noch geblendet. So torkelt er in der Welt herum. Ist es ein anderes Torkeln als damals, als die Welt ihn am Schlafittchen hatte? Es ist ein anderes Torkeln. An einem kleinen Zipfel hat er den Schleier gehoben. Die Welt ist anders geworden. Er wird nie mehr so blind und stumpf und verzweifelt am Rande stehen. Weil er in die Mitte gesehen hat. Und dort war – Liebe! Man kann es nicht glauben, die Welt hat es vergessen. Die Welt torkelt ihren alten stumpfen Gang.

 

Aus Notizen 2011
Foto von Kris Schulze