Die Nase

Da war ein Mann mit einer grossen Nase. Als Kind wurde er gehänselt. Als Jugendlicher verliebte er sich. Aber er getraute sich nicht, das Mädchen anzusprechen. Im Militärdienst wurde er aufgezogen deswegen. Auch im Berufsleben stand seine Nase ihm im Wege.

Da beschloss er, sich die Nase operieren zu lassen. Ohne diese Nase wird es leichter, dachte er. Dann kann ich eine Beziehung haben wie andere Leute, dann klappt es im Beruf, dann fängt das Leben an! Die Operation verlief gut. Die Nase sah jetzt aus wie eine andere. Da wurde er krank. Er hatte so lange mit seiner langen Nase gelebt, dass er sich eingerichtet hatte damit. Er litt darunter, aber es hatte auch einen Vorteil. Er konnte alles auf seine Nase schieben.

Wenn es mir schwer fällt, mich wirklich frei zu fühlen und mein Leben zu gestalten, geht es mir vielleicht wie dem Mann mit der langen Nase. Ich leide unter den Verhältnissen, aber ich ziehe auch einen Gewinn daraus. Und diesen Gewinn kann ich nicht hergeben. Opfer sein ist furchtbar. Da ist man machtlos, es ist eine lähmende Erfahrung. Aber es hat doch auch einen Vorteil dabei: Man kann so die Verantwortung für sein Leben abgeben.

 

Aus Notizen 1999
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