Rebellion

Nach einem Misserfolg in der Schule, oder was ich dafür halte, fällt es mir schwer, unter Leute zu gehen. Ich fühle mich wie ein Missetäter im alten China, der mit einem „Schandkragen“ herumgeführt wird, und phantasiere, jeder wisse um meinen Misserfolg. Ich ertrage es nicht, etwas nicht zu schaffen. Ich ertrage mich selber nicht in einem Misserfolg, ich kann so nicht leben. Ich gebe mir kein Lebensrecht mit Misserfolg, ich will in den Boden versinken vor Scham.

Für mein Gefühl, das all diese Prozesse nicht durchschaut, sind es die Schüler, die mich kränken: Sie wollen nicht so „mitmachen“, dass es ein Erfolg wird, sie sind „frech“ etc.

Als Gott die Gesetze gab
Auf dem Weg nach Hause ist mir eine Geschichte eingefallen: Moses zerbricht die ersten Tafeln (2. Mose 31,18ff). Gott gibt Moses auf dem Berg das Gesetz, die Norm, an der sich Wert und Würde bemisst. Er selbst schreibt die Tafeln. Moses kommt zum Volk zurück, er sieht, dass dieses schon abgefallen ist. Und er zerbricht die Tafeln. Er ist wütend und enttäuscht und schlägt das Volk, das so versagt. Aber er zerbricht auch die Tafeln!

Mit menschlichem Finger
Warum zerbricht Moses die Tafeln? Da ist Zorn, Aggression gegen Gott. Er gab ein Gesetz, das nicht zu halten ist, Normen, an denen der konkrete Mensch nur immer seine Grenze erfährt, so dass er sich selbst ablehnen muss. Selbsthass schlägt in Hass um. So zerbricht Moses Gottes Tafeln, und er schreibt sie neu. Der Inhalt ist derselbe, aber jetzt ist er von ihm geschrieben, mit „menschlichem Finger“. Das ist näher am konkreten Sein, näher an menschlichen Grenzen. So ist es eher erfüllbar. Und es wird fruchtbar, weil es Leben anleitet. In absoluter Forderung ist es aber unfruchtbar, tödlich, es weckt Selbstablehnung und Hass.

Ich muss wie Moses die Tafeln zerbrechen. Ich habe von Vater zwar die Rolle des Erwachsenen übernommen, ich trage die väterliche Autorität in mir. Aber sie steht noch auf göttlichen Tafeln. Dieser Massstab ist nicht gut, nicht förderlich, er bringt mich und andere um.

An der Seite der Schüler
Ich muss die Tafeln zerbrechen, ich muss selber die Pubertät durchmachen, welche die Kinder jetzt durchkämpfen. Ich muss mit ihnen gemeinsam die Tafeln zerbrechen und neue Tafeln aufrichten, die lebbar sind, mit fleischernem Finger geschrieben, als Orientierung und Hilfe, nicht als Bedingung für die Existenz.

Erst wenn ich mich an Normen orientieren kann, ohne es unbedingt zu müssen, erst dann kann ich auch dagegen verstossen, ohne aus meinem Daseinsrecht zu fallen. Erst dann kann ich in meinen Grenzen leben, ohne das Daseinsrecht zu verlieren.

Die Gnade, schuldig zu werden
Ich will endlich lernen, schuldig zu werden. Endlich mit Mose und dem Volk vom Gottesberg weiterziehen, nicht daran kleben bleiben aus Sehnsucht, mit dem Gesetz identisch zu werden, nur gut zu sein, nie Tadel auf mich zu ziehen, von Gott nur geliebt zu sein… Endlich weiterziehen (und Gott zutrauen, dass er mich auch in Misserfolgen und abweichendem Verhalten annimmt).

Rebellieren, Tafeln zerbrechen und nur ein Abbild davon mitnehmen – der Berg ist zu heilig, dort hält es der Mensch nicht aus.

 

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
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