Was es nicht ist

Die religiöse Tradition redet von Liebe und stellt es als höchsten Wert eines christlichen Lebens hin. Aber sie hat lange so davon geredet, bis das Gemeinte gar nicht mehr erkennbar war, bis die Angesprochenen es nicht mehr mit eigenen Erfahrungen verbinden konnten.

Und vor allem hat sie immer wieder moralisch davon gesprochen, als ob das eine Sache von gutem Willen und von Anstrengung wäre! „Liebe“ müssen wir uns nicht vornehmen wie eine saure Pflicht, das ist ein allererstes Lebensbedürfnis. Und was uns daran hindert, ist nicht Faulheit oder Egoismus – viele haben ja bis zum Überdruss genug an ihrem „Ego“ und finden doch den Weg nicht hinaus! Die dauernde Anstrengung erhöht nur das Gefühl der Vergeblichkeit und vertieft den Überdruss am ewigen Kreisen in sich selber.

Selbstlos
Was uns hindert ist oft nicht ein zu viel an „Selbst“, das wir verleugnen müssen, um zur Liebe zu gelangen. Das Hindernis zur Liebe ist oft ein zu wenig an „Selbst“: am Selbstvertrauen, an Vertrauen zur Welt, zum Dasein. Was oft von Kindheit an fehlt, ist jene Selbstverständlichkeit, am Leben zu sein, eine Unbekümmertheit des Daseins, das sich und seine Lebensimpulse nicht immer hinterfragt, eine Leichtigkeit des Seins, mit der ein Mensch sich in der Welt aufgehoben weiss und sich den andern zumutet. Was fehlt, ist – in einem Wort – Glaube. Das biblische Wort dafür ist Vertrauen.

Ist jetzt etwas gewonnen? Die Moral bringt’s nicht, es hängt am Vertrauen – aber lässt sich dieses lernen? In diesem Sinn sehnen sich viele nach dem Glauben – aber wie dahin gelangen? Wir möchten es schnell haben, damit wir unser Leben besser gestalten können. Besser heisst: „nicht so wie jetzt“. Der Wunsch nach Besserem ist Selbstablehnung in anderer Form, der Wunsch nach schnellen Rezepten ist selber ein Symptom jenes fehlenden Vertrauens.

Keine Abkürzung
Liebe und Vertrauen entfalten sich auf einem Weg, der mit dem Lebensweg identisch ist. Da gibt es keine Abkürzung. Es lässt sich nicht sinnvoll unterscheiden zwischen einem „Leben davor“ und „danach“, der Weg selbst macht das Leben aus, wir brauchen haargenau so viel Zeit dazu, wie unser Leben dauert.

Wer in der Kindheit einen guten Start ins Leben fand, der mag über Selbst-Verleugnung zur Liebe kommen. Heute gibt es aber viele Menschen, die sich nicht schon wieder verleugnen, sondern erst einmal bejahen lernen müssen. Was ihnen hilft, ist bei sich bleiben, wie sehr sie auch davon laufen möchten auf der Suche nach Anerkennung. Aber das Lob der andern bringt sie von sich weg.

Was ihnen hilft, ist präsent bleiben im Gegenüber zu jenem Gott, der da ist, der uns begleitet. „Wer bin ich?“ hat Moses Gott gefragt. Und die Antwort: „Ich bin mit Dir!“

 

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
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