Neulich an der Haltestelle

Ich stand an der Haltestelle und wartete auf den Bus. Ich war in Eile, es schien mir eine Ewigkeit, bis er kam. Da plötzlich, als ich so stand, riss etwas in mir ab. Ich fragte mich, was ich hier tat. Das „du musst!“ und „du sollst!“, das mich immer angetrieben hatte, verstummte und ich wurde mir selber fremd.“

So erzählt ein Mann, der eines Morgens aus der Routine seines Lebens herausgerissen wird. „Mir begegnet das eher in Träumen“, sagt eine Frau. „Da sehe ich mein Leben wie von aussen. Ich schreibe meine Träume auf. So spüre ich, wo ich stehe und wie es weitergeht.“

Die Selbstverständlichkeit zerbricht
Manchmal ist es, als ob die Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Leben führen, auseinander bricht. Nicht nur der Weg, den wir gehen, wird dann zweifelhaft. Auch die Frage „wer bin ich?“ stellt sich wieder. So kann es sein, wenn ein Entwicklungs-Schritt ansteht, oder wenn das Leben durch ein äusseres Ereignis in eine Krise gerät.

„Krise“ ist ein griechisches Wort und heisst Entscheidung. Der Weg scheidet sich, es braucht eine Entscheidung. Und was bisher automatisch gehandhabt wurde, braucht jetzt eine Überlegung. So ging es auch dem Mann, der seine Wohnung zügelte. Als er nach der Arbeit nachhause fuhr, nahm er gedankenlos den gewohnten Weg – bis er vor seiner alten Haustür stand. Da fiel es ihm wieder ein. „Da wohne ich ja gar nicht mehr!“

„Ich mache das zum ersten Mal“
Was die Menschen in diesem Beispiel beschäftigt, ist „Seelsorge“. Bei diesem Wort denkt man zuerst an Kirche oder an die Arbeit eines Seelsorgers im Spital. Aber die Seelsorge ist nicht nur eine Tätigkeit, die Spezialisten für andere tun. Die Sorge um die Seele beginnt als Arbeit an sich selbst. Sie entsteht als Möglichkeit und Aufgabe überall dort, wo eine Selbstverständlichkeit zu Ende geht. Und weil der Mensch nicht einfach nur von aussen bestimmt wird, ist es eine urmenschliche Aufgabe. Es ist das allererste Lebensbedürfnis, sein Leben recht zu führen. Es ist die faszinierendste Frage überhaupt.

Es beginnt meist in der Pubertät, es ist wie ein Erwachen, ein Aha-Erlebnis. Man beginn die Zügel seines Lebens selber in die Hand zu nehmen. Später kann der bewusste Umgang mit dem eigenen Leben auch wieder verloren gehen, weil äussere Aufgaben alle Aufmerksamkeit beanspruchen. Bis ein neues Ereignis, eine neue Weggabelung, auch diese Gestalt des Lebens zerbricht.

Ich versuche immer, das Beste zu geben. Aber alt bin ich noch nie zuvor geworden; für mich ist es das erste Mal. Und ich bin nicht sicher, dass ich es richtig mache.“ So sagte Charlie Munger, einer der erfolgreichsten Financiers der USA. Was er im Beruf geleistet hatte, half ihm hier nicht weiter. Wie man richtig alt wird, bei dieser Frage empfand er sich als Lehrling, trotz seines Milliarden-Vermögens, das er sich erworben hatte.

Ich und Du und wir
Es gibt Fragen, da gibt es keine Stellvertretung. Niemand kann sein Leben delegieren. Auch für alles Geld der Welt kann niemand einen anderen engagieren: „Stirb du meinen Tod für mich!“ Auch geboren werden ist ganz persönlich. Und sich verlieben, das wird man erst recht nicht einem andern übertragen wollen.

Die grossen Fragen sind jedem Leben aufgetragen. Gerade darum gibt es auch einen ungeheuer grossen Schatz an Erfahrungen, der in den Kulturen überliefert wird.

Darum bleibt es nicht stehen beim Erschrecken an der Bushaltestelle. Es gibt auch eine Kultur der „Lebenspflege“. Tagebuch-Schreiben gehört dazu, sich regelmässig eine Auszeit gönnen, gehört dazu. „Ich stehe immer eine Stunde früher auf“, erzählt eine Frau. „In dieser Zeit gehe ich joggen. Dann kann ich anders in den Tag starten.“ „Mir ist der freie Tag in der Woche wichtig“, sagt ein Mann. „Dieser Tag gehört der Familie, da haben wir Zeit füreinander und finden Ruhe.“

Schön wäre es, jetzt mit einem Bibelspruch zu enden. Aber es ist kaum ein Text in der Bibel zu finden, der nicht von dieser Sorge für die Seele, von diesem Weg des Lebens handelt. Alle reden sie letztlich von Gott und vom Glauben. Im Leben vor Gott findet der Mensch das „Du“, das ihn als Gegenüber begleitet. Vor ihm erscheint das Leben in neuem Licht. Er ist der andere, an dem er sich erst findet und recht verstehen lernt. In der Beziehung zu ihm findet er einen absoluten Halt, der ihn durch alle wechselnden Bedingungen seines Lebens hindurch tragen kann.

„Heb Gott vor Auge!“, so sagte man früher einem Menschen beim Abschied. Es ist der Rat, acht zu haben auf sein Leben, auf seine Seele, wie es heisst im Psalm 16: „Ich habe den Herrn allezeit vor Augen. Steht er mir zur Rechten, so wanke ich nicht. Darum freut sich mein Herz, und frohlockt meine Seele. Auch mein Leib wird sicher wohnen. Du tust mir kund den Weg zum Leben. Vor dir ist Freude und Fülle ewiglich.“

(Aus „Mission Impossible – Die unmögliche Aufgabe, deren Lösung eine Kultur begründet“, Notizen 2007 bis 2008“ – Foto von Suzy Hazelwood)