Das Ganze

Haben nicht Jahrhunderte von Religionskritik diese philosophischen «Hinterwelten» bekämpft und aufgehoben – soll jetzt sollen sie auferstehen? Der letzte Sonntag im Kirchenjahr blickt auf das «Ende» der Geschichte. Als ob Geschichte etwas «Ganzes» wäre. So geschieht es aber schon am Grab, wenn ein Leben erzählt wird.

„Das Ganze“ – unverhofft und ungeplant taucht dieser Begriff wieder auf. Diesmal aber nicht nur funktionell als Verstehens-Horizont, sondern als eine faktische Totalität, die unterstellt wird. Der Ausgangspunkt ist nicht spekulativ, sondern folgt aus dem Lebensvollzug. Es geht um praktische Interessen, nicht um Spekulation.

Es taucht auf bei einer Beerdigung. An der Lebensgrenze, da wird eine faktische Totalität unterstellt, von der sich Begriffe ableiten wie „Ursprung“, „Ziel“, „Ankommen“. Und im Lebensvollzug, in der „Lebensmitte“ (auch diese ist nur von einer Totalität her abzuleiten) taucht die Vorstellung auf vom „Weg“. Das ist „die“ Kategorie der Lebens-Leitung in allen Religionen.

Durch das Verständnis, auf einem Weg zu sein, wird jedes Tun und Denken zu einem „Schritt“, es ist orientiert auf ein Ziel. Es weiss sich begleitet von einem Ursprung, der mitgeht. Es hat jederzeit Zugang zum Ganzen, es kann im Gebet durch das „Tor“ gehen und sich „vor Gott stellen“.

Der Weg fügt die Spanne zwischen Geburt und Tod ein in das Geschehen zwischen Ursprung und Vollendung. Es fügt es somit ein in die grosse Erzählung von „allem“, von der „Schöpfung“ und „Vollendung“.

Der Fuss auf dem Boden
In der Verstehens-Lehre ist das bekannt als „hermeneutischer Zirkel“ zwischen Teil und Ganzem. Vom Satz her verstehe ich das Kapitel, von Kapitel her das Buch, und umgekehrt vom Buch her das kleinste Teil bis zum Wort und zum Satzzeichen. Im Selbstverstehen des Menschen geht es aber nicht nur um virtuelle Grössen. Wer am Morgen aufsteht, setzt den Fuss auf den Boden. Er arbeitet sich ab an der harten Wirklichkeit.

Auch der „Geistes-Arbeiter“ kann von seiner Arbeit so gestresst sein, dass er echte Magengeschwüre bekommt und einen echten Herzinfarkt. Und er wird in einen echten Holzsarg beerdigt. (Aber selbst, wenn er zu Asche verbrannt wird – der Anschein, dass alles nur Wind und Vorstellung sei, scheitert an der Urne, die physisch da ist und für die ein Platz gefunden werden muss. Wer sie in die Bücherwand stellt, macht unliebsame Erlebnisse, weil sie mahnt, dass da etwas noch offen ist, dass da noch etwas abgeschlossen werden will.)

Denknotwendig und lebensnotwendig
Klar kann man jetzt wieder die Funktion „Vorstellung“ abgrenzen. Ob Mensch oder Buch, es mache keinen Unterschied, es gehe um Verstehen. Es macht aber doch einen Unterschied. Das Ganze, das im Leben-Können unterstellt wird, ist denk- und lebensnotwendig.

Dass ich eine Sinn-Grösse nur verstehe von seinem hermeneutischen Umfeld her, das zeigt denknotwendige Beziehungen. Lebensnotwendig für einen Menschen sind aber Vorstellungen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Dazu alles was nötig ist zu einem Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit (die christliche Tradition fasst das in das Bild vom „Reich Gottes“). Dazu gehört auch das Gelingen des individuellen Lebens („ankommen“) und dass der Weg der Menschheit insgesamt sich nicht im Dunkeln verliert.

Hinterwelt?
Also geht es um mehr als um eine Verstehens-Lehre. Wer lebt, macht Unterstellungen im Sinn der Metaphysik, ob das die Zeitgeist-Philosophie jetzt wahrnimmt oder nicht. Damit wird aber nicht irgendeine Hinterwelt hypostasiert, von der her alle möglichen priesterlichen Interessen abgeleitet werden können. Es nimmt nur die Erfahrung auf, dass ich mein Leben nicht gesund leben kann, wenn ich mir kein Lebensrecht zubillige, wenn ich nicht überhaupt als Ziel für das Zusammenleben Gerechtigkeit unterstelle. Ich kann meine psychische Gesundheit nicht erhalten ohne ein Minimum von Daseinsbedingungen.

In einer Grabrede steht man schnell an diesem Punkt. Nach der Liste der Verdienste kommen all die Dinge, die das Leben ausmachen, die man aber nicht selber herstellt. Sie sind geschenkt, sie gehören zum „andern“. Sie bilden die condition humaine, mit der man sich in ein Verhältnis setzen muss. Und das besteht nicht in Herstellen und Kontrolle. Es hat zu tun mit Danken und Feiern. Anders kann man damit nicht umgehen und scheitert schon an den nächsten Lebensaufgaben, wenn man die Plattform, von der her man das bisherige Leben „gemanaged“ hat, verlassen muss.

Lebenswenden
Solche Wandlungsphasen, die nicht nur einen Teil des bisherigen Lebens verändern, sondern die ganze Totalität des Lebens und Selbst-Verstehens umfassen, können nicht gemanaged werden, da gibt es gar keinen archimedischen Punkt, der ausserhalb stünde. Man muss sich voll und ganz anvertrauen, mit allem, was einen ausmacht. Man muss ins Wasser springen, in den Tod gehen von allem, was die bisherige Identität ausmachte. Und man wird sehen, was geschieht. Man hat kein Wissen davon im Vornherein. Allenfalls, wenn man mit den Traditionen vertraut ist, hat man Bilder der Wandlung, die einem Vertrauen geben, sodass man sich selber aufgeben kann. Dass man sich selber hingeben kann. Das ist verlangt, mit weniger gelingt es nicht.

Das erlebt man am Grab, man kann es aber auch an jedem „Kreuzpunkt“ erleben. Es wiederholt sich, was die Jünger unter dem Kreuz erlebten, als der Lärm des Tuns und Tötens verebbte und in der Stille das „andere“ wahrnehmbar wurde: was immer schon da ist, was unser Leben trägt. (Biographisch finden wir es vor, wenn unser Bewusstsein in der Jugend erwacht.)

„Das Ganze“
Das alles kann man, bloss vom Verstehen her, als Sinntotalität ansprechen. Es ist aber ein faktischer Lebenshorizont, der nicht zu überschreiten ist. Er umgrenzt unser Leben, er ist „das Ganze“, von dem her unser Leben einen Ursprung bekommt (einen Anfang), ein Ziel (ein Ankommen), eine Mitte. Und die Erfahrung der Generationen, wie man lebt in diesem Sinnganzen, kann Schritt für Schritt weitergegeben werden in einem „Weg“. So tun das die asiatischen Religionen, so die vorderasiatischen, so irgendeine Religion, der es überhaupt um das rechte Leben zu tun ist. So auch das Christentum. Es erkennt den Weg als verkörpert in Jesus Christus.

So erwächst aus der Grabesruhe eine neue Welt, aus dem Wasser eine neue Schöpfung. So wird es Ostern in einer Welt, die sich „ohne Gott“ verstehen will und ohne „Metaphysik“.

„Neue Metaphysik“
Neue Metaphysik: ist das erlaubt, wenn alle vom „nachmetaphysischen Zeitalter“ sprechen? Es scheint mir einfach phantasielos, sich nicht „alle Wirklichkeit“ in ein Bild zu fassen. Physiker tun es mit ihren kosmogonischen Modellen und Energieformeln, Naturwissenschaftler mit ihren Grosstheorien. (Sie erzählen die Genese der Arten, des Lebens überhaupt. Sie erzählen die Genese der Stoffe in der astrophysikalischen Nukleosynthese.) Die Erkenntnisinteressen dort sind technologisch, auf Naturbeherrschung ausgerichtet. Religiöse Bilder sind auf Lebenspraxis ausgerichtet. Die einen „bewähren“ sich im Labor, in der technischen Anwendung (dazu wurden sie ja erzeugt), die andern in der Anleitung zu einem guten und richtigen Leben (dazu werden sie weitergegeben).

Ein Beispiel ist das Bild von Christus als Lebensbaum (Gleichnis vom Rebstock): Er ist die Wurzel. Durch ihn sind wir verbunden mit der Quelle des Lebens: Bei ihm finden wir immer neue Kraft. Er ist der Stamm, der uns hält. Wir sind die Austriebe für diese Vegetationsperiode. Wir sollen blühen und Frucht bringen, so blüht das Ganze in uns, für unsere Zeit. Aber wir tragen nicht alles, sondern sind getragen. Vom Stamm sind wir gehalten, unverlierbar in aller Wirklichkeit. Danach „verholzen“ auch wir, wir tragen die nächste Generation, so wie wir von den Voreltern getragen wurden. So verzweigt sich dieser Lebensbaum. Er ist die Krone. Er wächst dem Himmel entgegen, bringt alles zur Vollendung. So dürfen wir vertrauen, dass unser Leben „ankommt“, dass sich auch an uns erfüllt, was der Sinn des Ganzen ist.

Praxis, nicht Spekulation
Das Bild vom Rebstock, vom Lebensbaum – das richtet sich nicht v.a. an die Spekulation (für spekulative Geister ist es naiv, sie spotten darüber). Es ist ein Bild für den Lebensvollzug. (Und wer hinausgeht, wer sich hinauswagt aus alten Sicherheiten, der findet hier, was er braucht.). Er kann es betrachten (Kontemplation), er kann es tanzen (Körper und Geist vereinen), er kann es feiern mit andern und es sich vergegenwärtigen (im Gottesdienst).

Es hilft ihm auf dem Lebensweg. Er kann sich wiederfinden, wenn er sich verloren hat. Er kann Trost finden im Verlust. Er findet hier neue Kraft, Motivation, Freude und Fröhlichkeit, um in den Tag zu gehen und die Aufgaben anzugehen, die vor ihm stehen – Tag für Tag, in diesem konkreten Leben, nicht in einer spekulativen Überwelt.

 

Zum Ewigkeits-Sonntag (ref.) bzw. Christkönigsfest (kath.), dem letzten Tag des Kirchenjahres. Hier wird das «Ende der Geschichte» in der Feier vorweggenommen.

Aus Notizen 2016