Die fünfte Jahreszeit

Schönes Herbstwetter ist es. Der Tag fing an unter einer dicken Nebeldecke. Aber am Mittag brach die Sonne durch. Sie taucht jetzt alles in ein freundliches Licht.

Ich mache eine Spaziergang vor die Stadt hinaus. Jetzt, anfangs Oktober, ist es unübersehbar: Es ist Herbst geworden. Das Laub der Bäume leuchtet farbig, Obst und Beeren sind abgenommen. Die Gärten sind abgeräumt und bereit gemacht für ein neues Jahr. Da und dort leuchtet noch das Rot-Gelb-Violett der Herbstblumen.

Ich hebe ein farbiges Blatt auf. Als Kinder haben wir solche Blätter gesammelt und in die Schule gebracht. Dort haben wir die Umrisse nachgezeichnet und ausgemalt. Ich liebte diese Stunden, ihre Stille und Beschaulichkeit. Man vergass die Zeit. Es war nicht Herbst, nicht Frühling, es war eine fünfte Jahreszeit: die Mitte der Zeit. Der Alltag war aufgehoben, alles war in Schönheit getaucht.

Wenn ich heute Herbst-Blätter sehe, erinnern sie mich an die Kindheit, und die Atmosphäre von damals steigt wieder auf. Die Kindheit ist wie ein Zauberland. Vieles war schön, und ich habe es genossen. Anderes war nicht schön, aber es gehörte dazu. Dann habe ich vom Schönen geträumt. Und die Träume sind mit den Erinnerungen verschmolzen, als ob ich es wirklich erlebt hätte.

Unter den Bäumen am Weg liegt das Laub schon tief. Als Kinder liebten wir es, durch solche Haufen hindurch zu waten. Eines Tages hörten wir, dass Tabak aus Blättern bestehe. Wir pflückten eine Handvoll vom Haselnuss-Strauch hinter dem Haus und trockneten sie im Heizungsraum unseres Blocks. (Das war ein dunkler Raum mit Röhren und Maschinen, den wir mit einem Gefühl des Unerlaubten betraten). Dann stopften wir sie in die Pfeife. Bitter war das!

So gab es Schönes in der Kindheit und Bitteres. Es liegt weit zurück.

Ein Garten ist ein Bild des Lebens: Da wächst all das, was wir gepflanzt haben. Hier und dort ist ein Unkraut eingewandert, das wir nicht gepflanzt haben – aber auch eine schöne Blume, von der wir nichts wussten. Der Wind hat den Samen hergetragen, ein Vogel hat ihn fallen lassen. So gibt es viel Schönes, was wir nicht selbst gemacht haben.

Der Herbst lädt dazu ein, Erntedank zu halten im eigenen Leben. Was habe ich Schönes erlebt? – Aus der Erinnerung steigt heute noch Kraft empor. So ist Danken nichts Sentimentales, es weckt die Lebensgeister. Anderes taucht auf, was weniger schön war. Der Glaubende kann es Gott übergeben. So wird ein Spaziergang zum Erntedank im eigenen Leben. So wird der Lebens-Garten bereit gemacht für das nächste Jahr.

(Aus „Mission Impossible – Die unmögliche Aufgabe, deren Lösung eine Kultur begründet“, Notizen 2007 bis 2008“ – Foto von Nubia Navarro)