Für den Tag und für das Leben

Mit dem Älterwerden ist es seltsam: Was gestern war, daran erinnert man sich oft nicht mehr, aber Dinge, die vor 40, 50 Jahren geschahen, die weiss man noch ganz genau! Viele sagen, im Alter lasse das Gedächtnis nach. Ich denke, es verändert sich.

Man erinnert sich an Dinge, die jetzt, im Alter, wichtig sind, und Unwesentliches wird ausgesiebt, es prägt sich gar nicht erst ein. Das Gedächtnis hat in diesem Alter einen Zug zum Grossen. Oft zieht das ganze Leben in der Erinnerung an einem vorbei.

Als ob es jetzt geschähe
Wenn ich am frühen Nachmittag ältere Menschen besuche, die eben von einem Mittags-Schlaf aufgestanden sind, stehen sie oft noch unter dem Eindruck dieser Erinnerungen. Aussenstehende sagen dann leicht, sie seien „verwirrt“. Aber im Schlaf oder in Halbschaf sind die Erinnerungen zurück gewandert. Sie sahen die Mutter vor sich, wie sie unter der Türe stand oder sie hörten sie in der Küche „werchen“. Sie sahen den Vater in einem Bild, das sich ihnen tief eingeprägt hat.

Manche erzählen bei einem solchen Besuch von ihren Kindern. Und sie erzählen es so, dass der Zeitabstand aufgehoben ist. Sie hören „jetzt“ ihre kleinen Kinder rufen, aber in „Wirklichkeit“ sind sie schon lange ausgezogen, sie haben selber Kinder, und vielleicht haben sie selber schon das Pensionsalter erreicht. Aber die alte Mutter hört sie „jetzt“ rufen, und sie will gehen und Mittagessen machen.

Alles wird nochmals angesehen
Das ist auch „Wirklichkeit“. Es ist offenbar eine Weise, Wirklichkeit vor uns hinzustellen, wie sie das Alter braucht. Das scheint wichtig für das Alter, dass man sein ganzes Leben noch mal ansieht, dass alles innerlich noch mal an einem vorbeizieht.

Vieles, was früher schmerzte, hat jetzt von seiner Schärfe verloren. Man bedauert vielleicht einen Fehler, muss aber nicht mehr darüber verzweifeln. Und wenn andere einen Fehler gemacht haben, ist jetzt Gelegenheit, den Groll fahren zu lassen. «Es ist gut wie es gewesen ist.» Und das, worunter man früher gelitten hat, vermisst man jetzt vielleicht sogar. «Es war doch schön, trotz allem.»

Viele Menschen sind schon gestorben, mit denen man das Leben teilte. Es sind nicht mehr so viele, mit denen man gemeinsame Erinnerungen austauschen kann, die wissen, was wir meinen, wenn wir einen Namen aussprechen oder von einem Ereignis erzählen.

So geht es mit den Erinnerungen. Sie helfen, sich auf das Alter einzustellen und auf die neuen Aufgaben, die da sind, die auch das Alter hat. Vieles davon ist Abschliessen, aber das heisst auch Versöhnen, Frieden stiften, etwas weitergeben. Und es heisst auch: für sich selber Frieden finden, sich mit seinem Leben aussöhnen, sein Schicksal bejahen.

Seltsam, wie das Gedächtnis spielt! Es ist, als ob da etwas in uns wäre, das uns führt, auf Neues vorbereitet, das uns, Stufe um Stufe, durch unser Leben begleitet!

 

Aus Notizen 1998
Foto von Suzy Hazelwood von Pexels