Wenn einer alles verliert und alles gewinnt

Was uns zuinnerst beschäftigt, das lässt sich nicht so leicht aussprechen. Aber in Träumen taucht es oft auf. Und Märchen und Sagen erzählen davon. Da wird etwa von einem Königreich erzählt, und der Ruf ergeht an alle, eine Aufgabe zu lösen. Wer sie löst, der erhält die Prinzessin, wer versagt, verliert sein Leben. Die Märchensprache ist drastisch, aber so ist klar: Es geht um Leben und Tod. Es geht um die zentrale Frage des Lebens, nicht um Erfolg oder Misserfolg im Kleinen, sondern um das Gelingen des Lebens im Ganzen.

Die Religionen befassen sich intensiv mit solchen Fragen, und das Christentum begeht diese Frage in seinem zentralen Sakrament: der Taufe. Hier wird das Leben als Ganzes ins Auge gefasst und gefragt, wie es als Ganzes gelingen kann. In dieser Feier wird der Täufling dem Weg anvertraut, der ins Ziel führt.

Es ist spannend zu sehen, wie die alte Kirche Taufe gefeiert hat. Der erste Teil der Feier war die „separatio“. Hier ging es darum, loszulassen, woran man bislang hing, wovon man profitierte, was man für richtig hielt, um bereit zu werden, im zweiten Teil (der „initiatio“) das Vertrauen ganz auf Gott zu setzen. Mit diesem Vertrauen und nichts als diesem Vertrauen „bewaffnet“, galt es dann, in die Herausforderungen des täglichen Lebens zurückzugehen (die „ordinatio“).

So wie bisher geht es nicht weiter
Die Taufe beschreibt einen Entwicklungsweg. Sie zeigt, wie ein Mensch, der alles in der Hand hält, an einen toten Punkt gelangt. Aber aus der Krise entsteht etwas Neues. In der Ausweglosigkeit öffnet sich eine Tür. Man entdeckt, dass es in der Welt noch andere Kräfte gibt, die unser Leben mit-gestalten. Und wir dürfen uns diesen Kräften vertrauensvoll übergeben. Das meint der Glaube: aus dem Vertrauen auf diese Kräfte leben. Das wird symbolhaft gezeigt mit der Taufe. Sie markiert den Übergang aus dem alten zum neuen Leben, aus dem Vertrauen auf sich allein zum Vertrauen auf Gott.

Unter Wasser
Das Untertauchen und Auftauchen bei der Taufe ist ein uraltes Zeichen. Es begegnet schon im alten Ägypten. Das alte Ägypten lebte davon, dass der Nil jedes Jahr das Land überschwemmte. Alles versank dann unter Wasser. Die Flut kam oft gewalttätig, sie kostete dann viele Menschenleben. Aber schlimmer wäre es gewesen, wenn die Flut in einem Jahr ausgeblieben wäre. Dann wären die Felder nicht bewässert worden, es hätte eine Hungersnot gegeben. Die jährliche Nilflut, das war das Ereignis, von dem das ganze Land lebte. Dass die Flut kommt und wieder zurückgeht: das war der Hauptinhalt der Schöpfungserzählung.

Untertauchen in der Flut, das bedeutete Chaos und Tod, aber auch Erneuerung, weil das Wasser die Felder bewässerte und mit dem Lehm düngte. Wenn das Wasser sich dann zurückzog, grünte wieder alles, es gab Futter, das Vieh hatte Nachwuchs, der jährliche Kreislauf des Lebens begann von neuem wie bei uns im Frühling. Wenn alles auftauchte aus der Flut, so war es neues Leben.

Auftauchen, Untertauchen – das waren starke Bilder, sie sind zu Symbolen geworden für Tod und neue Schöpfung. Und in diesen Bildern und Symbolen hat man auch das Erleben der Menschen beschrieben, so dass man dann bei einer inneren Not sagen konnte: das Wasser steht mir bis zum Hals.

Was wäre denn, wenn das Schlimmste wirklich geschähe?
Was wäre denn, wenn das Schlimmste wirklich geschähe? – Was ist, wenn die Welle wirklich kommt? Wenn die Flut uns wirklich über den Kopf geht? – Gerade bei einer Taufe soll man sich das fragen. Denn da suchen wir ja nach einem Schutz, der ver-hält. Wir müssen unsere Kinder dem Lebens-Strom anvertrauen, und möchten spüren, dass sie auf ihrem Weg gehalten sind, was immer passiert. Darum erinnert die Tradition bei der Taufe an die Sintflut, wo die Welt „unter geht“. Sie zeigt, dass wir bewahrt sind, und nicht verloren gehen in dieser Welt. Weil Gott uns hält.

Die Angst, alles zu verlieren, begleitet viele Menschen. Das kann sein, die Stelle zu verlieren, die Arbeit, den Partner, die Gesundheit, die Familie. Eine solche Angst lähmt – aber sie übt auch eine geheime Faszination aus. Man möchte wissen, wie es ist, denn dort könnte sich die Angst beruhigen, dort könnte man frei werden von den Zwängen, denen man sich immer unterwirft.

Kein Wunder gehen Menschen immer wieder an die Grenzen, kein Wunder wird ein solche Szenario in vielen Filmen immer wieder durchgespielt. Man möchte wissen, wie es ist, wenn das Schlimmste eintrifft, das man sich vorstellen kann.

Ein biblischer Roman
Eine solche Geschichte gibt es auch in der Bibel. Das ist die Geschichte von Jona. Der ist mit seinem Lebensschiff in ein schwieriges Fahrwasser geraten. So wie er bisher gelebt hat, geht es nicht mehr weiter, aber die Zukunft, die er vor sich sieht, macht ihm Angst. So weiss er keinen andern Ausweg, als davonzulaufen. Aber das nützt ihm nichts. Statt dem entgegen zugehen, was er vor sich sieht, läuft er davon, und es holt ihn jetzt von hinten ein. Es geht ihm wie eine Welle über den Nacken.

Da ist sie jetzt, die Krise, aber die Bibel redet nicht psychologisch. Sie redet von der Flut, die ansteigt, vom Wasser, das ihm bis an die Kehle geht und wie er schliesslich untertaucht. In der Sprache des modernen Lebens können wir uns vorstellen, was das bedeutet: Er sieht keinen Weg mehr, der weiterführt, er ist am Ende angelangt. Er fürchtet um sein Leben. Und er versinkt schliesslich in den Fluten. Er verliert alles, worauf er bisher vertraut hat.

Und jetzt sehen wir, was geschieht, wenn einer alles verliert. Wir sehen was geschehen kann, die Geschichte von Jona führt es uns vor.

Er verliert den Halt unter den Füssen, er rudert mit den Händen, er kann sich nirgends festhalten, es ist ein Gefühl, als ob er ins Meer geworfen wäre. Panik ergreift ihn. Er schlägt um sich.

Er sinkt immer tiefer. Da kommt ein grosser Fisch, so heisst es in der Bibel, der verschlingt ihn. Und drei Tage und drei Nächte verbringt er im Bauch des Fisches und fährt mit ihm bis zum Grund des Meeres, dorthin, wo die Berge am Grund der Welt wurzeln und die Welt festgemacht ist.

Er begegnet, könnte man modern formulieren, dem „andern“, er findet mitten in seiner Angst, das, was die Welt trägt. Er kann seine Angst ablegen, die ihn immer davonlaufen liess, und dem entgegengehen, was er in seiner Zukunft sieht. Er findet einen neuen Ankerpunkt für sein Leben. Der Fisch speit ihn aus, er geht an Land, er taucht auf, er ist eine neue Schöpfung.

Auch an ihm hat sich das bewährt, was die Schöpfungsgeschichten berichten, er vertraut nicht mehr nur auf sich, sondern auf den, den er gefunden hat: auf Gott.

So steht in Mitte des Buches Jona ein Gebet:

Aus meiner Not rief ich zum Herrn, und er erhörte mich.
Aus dem Schoss der Unterwelt schrie ich, du hörtest meine Stimme.
Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, und die Flut umschloss mich;
All deine Wogen und Wellen gingen über mich hin.
 
Schon dachte ich, ich sei verstossen, hinweg aus deinen Augen.
Die Wasser gingen mir bis an die Kehle, die Tiefe umschloss mich,
Meertang umschlang mein Haupt, ich sank bis an die Gründe der Berge.
Ich war hinab gefahren in die Erde, ihre Riegel schlossen sich hinter mir auf ewig.
 
Da zogst du mein Leben empor aus der Grube, oh Herr, mein Gott!
Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich des Herrn,
Und mein Gebet drang zu dir in deinen heiligen Tempel! Du hast mich erhört!
Mitten in der Tiefe sind dein Ohr und deine rettende Hand.
Ich will dir danken, Herr, denn bei dir ist Hilfe!

So hat Jona mitten im Meer eine Hand gefunden, die ihm Halt gab.
So hat er mitten durch seine Krise hindurch zu einem neuen Leben gefunden.
So hat er seine Angst abgelegt und ist auf seine Zukunft zugegangen.
Das ist der Sinn der Taufe. Sie zeigt, dass wir in einer Kraft geborgen sind.
Und es ist ein Bild für den Glauben: wie wir im Vertrauen auf Gott unseren Weg gehen können.

 

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
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