Erntedank in der Fabrik?

Die Weinlese hat dieses Jahr bereits begonnen. Der Tourismus hat da und dort ein altes Fest wiederbelebt: den Erntedank. Für die meisten ist die Landwirtschaft aber wohl „weit weg“. Sie arbeiten in der Stadt. Kann man Erntedank feiern in der Fabrik?  In der digitalen Welt?

 

Auf dem Land feiert man bald wieder Erntedank. Dieses Fest ist uralt. Seit die Menschen die Erde bebauen, spüren sie, dass etwas dazu kommen muss zu ihrer Anstrengung, damit die Saat wächst und gedeiht. So war die Arbeit in der Landwirtschaft immer umgeben von religiösen Handlungen. Man bat Gott um Regen, um Schutz gegen Sturm und Hagel. Und bei der Ernte dankte man ihm für seinen Segen, der das Leben weitergehen liess.

Heute leben wir immer noch von dem, was auf den Feldern und Äckern wächst. Aber die Anschauung ist uns verloren gegangen. Nur noch vier Prozent der Schweizer Bevölkerung ist heute noch in der Landwirtschaft tätig. Und wir müssen uns fragen: Was bedeutet „Segen“ in der Fabrik? Macht Gott auch „gut Wetter“ für die Arbeit am Bildschirm? Wer im Büro arbeitet, möchte sich auch von Gott begleitet fühlen. Wie soll das gehen? Wie sagt er Danke, wenn ihm etwas gelungen ist?

„Ich nehme deine Opfer nicht an!“
Früher dankten die Menschen Gott, indem sie ihm einen Teil der Ernte zum Opfer brachten. Im Psalm 50 geschieht etwas Seltsames: Gott weist die Opfer zurück:

„Gott spricht: Höre, mein Volk, du bringst mir viele Opfergaben, Brandopfer bringst du mir zu jeder Zeit. Aber ich nehme deine Opfer nicht an. – Ich brauche ihn nicht, den Stier aus deinem Stall, auch nicht den Bock aus deinem Pferch! Alle Tiere des Waldes gehören mir, das Wild auf den Bergen, es ist mein Eigentum. Auch die Vögel gehören mir und die Tiere auf dem Feld. Mir gehört die ganze Erde und alles, was darauf lebt.

Nicht Opfer will ich von dir, sondern Dank: Löse deine Versprechen ein, die du mir in Bedrängnis gegeben hast, mir, dem Höchsten, deinem Gott! – Bist du in Not, so rufe mich zu Hilfe! Ich werde dir helfen und du wirst mich preisen. Dank ist die Opfergabe, an der ich Freude habe; und wer auf meinen Wegen geht, erfährt meine Hilfe.“

Wenn Bauern ihre Felder bestellen, wenn sie einen Acker anlegen, dann reden sie von ihren „Kulturen“. Für uns bedeutet das Wort Kultur noch etwas anderes. Es meint das, was die Menschen überhaupt tun, auch ihre geistigen Errungenschaften, das was auf „geistigen Feldern“ wächst. Dann gibt es noch das Wort „Kult“, das meint den Gottesdienst. – Drei Bereiche sind hier eng verbunden in dem Wort Kultur: das Tun der Menschen, die Landwirtschaft und der Gottesdienst. Das ist kein Zufall.

„Neolithische Revolution“
Sei vielen Jahrtausenden bestimmt die Landwirtschaft das Leben und Zusammenleben der Menschen. Sie ist zu unserer Kultur überhaupt geworden, seit die Menschen angefangen haben, Landwirtschaft zu betreiben. Das war vor etwa 15.000 Jahren. Bis dahin lebten die Menschen als Jäger und Sammler. Dann haben sie angefangen, Kulturen anzulegen. Statt sich mit dem zu begnügen, was sie in der Natur fanden, statt die Samen zu Brei zu zerstossen, säten sie sie wieder aus. Sie legten Felder an. So begann die Landwirtschaft. Die Historiker nennen das die „neolithische Revolution“: eine Umwälzung in der jüngeren Steinzeit (Neolithikum), die unser Leben gewaltig verändert habe. Seither hat uns die Landwirtschaft viele tausend Jahre lang begleitet. Und viele Vorstellungen sind von ihr geprägt.

Der Wechsel der Jahreszeiten, die Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter begleitet uns auf unserm Weg. Sie bestimmt Aussaat und Ernte. Die Menschen begannen, auch ihr eigenes Leben in diesen Bildern zu begreifen. So folgt der „Sommer des Lebens“ auf den „Frühling der Jugend“ und geht über in den „Herbst des Alters“ und endet mit dem Tod. Dann wird der Körper „der Erde übergeben“. Und diese Analogie von Aussaat und Beerdigung bekräftigt ihre Hoffnung auf Bewahrung auch im Dunkeln und auf neues Leben.

Das Leben der Natur, was wir in der Landwirtschaft erfahren, das bestimmt unsere Kultur bis heute. Leben und Tod sind aufgefangen in den Bildern dieser Kultur.

Industrielle Revolution
Vor etwa 200 Jahren gab es eine neue Revolution. Nicht der Ackerbau wurde da erfunden, sondern die Fabriken. Die Historiker sprechen von der Industriellen Revolution. Die Menschen arbeiteten nicht mehr auf den Feldern, sondern in Fabriken. Sie wohnten nicht mehr in Dörfern, sondern zogen in die Städte. Den Boden brauchte man nicht mehr, um darauf Weizen anzusäen. Es wurden Fabriken darauf gebaut, Häuser und Strassen.

Wie können wir das Leben verstehen im Bild der Fabrik-Arbeit? – Damals kam die Feuerbestattung auf. Dass man den Menschen wie einen Samen in die Erde legen kann, das verstand man nicht mehr. Dass aus ihm neues Leben entsteht, wie im Frühling – dieses Bild für die Auferstehung wurde den Menschen fremd. Sie fanden neue Bilder. Im Feuer wird alles zum Himmel getragen…

Die Welt der Fabriken hat uns nicht lange begleitet. In den letzten Jahrzehnten sind die Fabriken abgewandert, in Länder, wo die Löhne billiger sind. Vieles wurde automatisiert.

Dienstleistungen und „digitale Revolution“
Die Wirtschaft machte eine neue Revolution durch. Mehr und mehr Menschen arbeiten heute in Dienstleistungs-Berufen. Sie kaufen und verkaufen, sie pflegen in Spitälern, schneiden den Kunden die Haare. Dazu gehören auch die Banken, die Versicherungen und das Finanzgewerbe. Vier Fünftel der Steuern in der Stadt Zürich, die von Firmen bezahlt werden, stammen aus diesem Bereich.

Was hat das für Folgen für die Religion? Und der Erntedank – wie sollen wir ihn heute verstehen, wo so viele Menschen nur noch mit Zahlen zu tun haben?

Das Wort „Segen“ hat in dieser Welt kaum noch eine Bedeutung. In der Landwirtschaft meint Segen, dass Gott die Saat gedeihen lässt. So kann sie wachsen und Frucht bringen. Was soll das in einer Welt der Fabriken und Banken? –

Wirtschaft und Gesellschaft haben sich von dieser Form der Religion gelöst. Die alten Bilder des Glaubens können das Leben und Handeln in dieser neuen Welt kaum noch anleiten.

Heisst das jetzt, dass die Religion den Bezug zu Wirtschaft und Gesellschaft verloren hat? Heisst das, dass eine Wirtschaft ohne Religion entstanden sei? – Nicht zwingend. Wir müssen aber neue Bilder finden. Wir möchten uns auch heute von Gott getragen fühlen. Wir suchen seine Begleitung im Alltag, auch im Beruf. Wir möchten Danke sagen für das Schöne, und der Erntedank ist eine Hilfe dazu. Aber wir müssen auch neue Bilder finden, wie Gott uns beisteht und was er von uns verlangt.

Durch die Krise
Ein Beispiel dafür ist der Psalm, aus dem oben einige Verse zitiert wurden. Er stammt aus einer Zeit der Antike, die von tiefen Umbrüchen und Veränderungen geprägt war. Der Dichter hat miterlebt, wie das Volk Israel (das Südreich Juda) von Babylon überfallen wurde. Dabei wurde der Tempel in Jerusalem zerstört. Damit war auch der Opferdienst zu Ende, der nur am Tempel stattfinden konnte.
(Der Psalm ist „Asaph“ gewidmet, dem Ahnherrn der Sängergilde im ersten Tempel, aber er stammt vermutlich aus der Zeit der Rückkehr nach dem Exil.)

Was bedeutet „opfern“ in dieser Zeit? Nicht nur der Tempel ist zerstört. Der Krieg hat auch in der Seele der Menschen Zerstörung angerichtet. Der Tempel – das steht für die Seele, das Innerste, den Glauben, den Ort, wo Menschen sich finden und immer wieder neu ausrichten. Darum wurde der Tempel mit Absicht zerstört. Der Gegner sollte im Innersten getroffen werden.

Wie kann der Gedemütigte wieder aufsehen zu Gott? Wie kann er sich von Gott getragen wissen, wenn alles, was ihm Halt gab, in Trümmern liegt? – Solche Fragen stellten sich damals. Eine alte religiöse Welt war zu Ende, es mussten neue Wege gefunden werden.

Ähnlich ist es vielleicht heute, wenn wir Erntedank feiern – und spüren dass er zu einer Welt gehört, die schon fast versunken ist. – Welche Wege hat man damals gefunden? Wie können wir heute feiern?

Neuer Anfang
Opfer sind nicht mehr möglich, sagt der Sänger Asaph, als der Tempel zerstört wird. Aber Gott braucht keine Opfer. Was sollten wir Gott auch geben? Ihm gehört ja alles. Und er schenkt uns, was wir brauchen. Danken – das ist jetzt von uns verlangt, sogar in der Krise, in der vieles verloren scheint. So sagt Asaph. Wer dankt, bewahrt sich selbst. Er richtet sich auf Gott aus. So bestätigt er den Bund mit Gott. Und er spürt sein Da-Sein auf seinem Weg, und sein Weg verändert sich.

Der Sänger Asaph hat in einer Zeit des Aufbruchs gelebt. Er hat neue Formen gesucht, als das Alte nicht mehr möglich war. Asaph hat den Opferdienst vergeistigt. Statt Rinder zu opfern, sollen wir Gott unsere Dankbarkeit zeigen. Statt die Versöhnung über Opfer zu suchen, sollen wir uns an das Recht halten. So verändert sich auch unser Umgang mit den Menschen. Gott will Gerechtigkeit, nicht Opfer. Gott will, dass alle Menschen einen Anteil erhalten und in Frieden zusammenleben. So beginnt der Neuanfang nach der Katastrophe des Exils auch in der äusseren Welt.

So hat der Sänger Asaph den Tempeldienst vergeistigt – in einer Zeit, als es gar keinen Tempel mehr gab – und gleichzeitig eine Grundlage geschaffen, dass er sich neu im Äussern verkörpern konnte.

Ähnlich können auch wir heute Erntedank halten und die Gottesbeziehung weiterführen in anderer Form. Nur noch wenige sind in der Landwirtschaft tätig. Nur noch wenige haben eine lebendige Anschauung von dieser Welt. Wir können keine Äpfel und Trauben aus unserer Ernte mehr auf den Altar legen, keine Blumen oder Brot aus eigenem Mehl. Wir können aber das Gemeinte mitnehmen und anders füllen. Wir können den Dank an Gott „vergeistigen“.

Der Psalm fasst es im letzten Vers zusammen: „Dank ist die Opfergabe, an der ich Freude habe, spricht Gott, und wer auf meinen Wegen geht, erfährt meine Hilfe.“

Wer Gott dankt, der richtet sich auf ihn aus. Wer sich auf Gott ausrichtet, der geht andere Wege. Er hört auf Gott und lässt sich von ihm führen. Und so wird er auch seine Hilfe erfahren. Diese Hilfe sagt ihm Gott zu: „Rufe mich an in der Zeit der Not, so will ich dich erretten.“

Was die Glocke läutet
Dieser Vers aus dem Psalm 50 ist unserer Gemeinde besonders vertraut. Er steht auf einer der Glocken in unserem Geläute. Jede der Glocken trägt ja einen Vers aus der Bibel aufgegossen. Und die Sturmglocke, die früher in Notzeiten geläutet wurde, trägt diesen Vers aus dem Psalm des Sängers Asaph.

So haben schon unsere Vorfahren diesen Vers in Ehren gehalten. Damit schliesse ich und hoffe, dass wir die Notglocke noch lange nicht läuten müssen. Wenn aber einmal eine Not kommen sollte, dann wissen wir, was darauf steht: „Rufe mich an in der Zeit der Not, so will ich dich erretten und du wirst mich preisen.

 

Nach einem Gottesdienst aus dem Jahr 2011