Absolutheitsanspruch im Christentum?

Es gibt heute ernste und grosse Probleme – soll man sich auch noch um den Glauben streiten? Haben die Kirchen nichts Besseres zu tun? Sollten sie sich nicht besser mal um die Menschen kümmern? – Viele denken wohl so, wenn sie in der Zeitung lesen, wie Kirchen sich gegenseitig die Wahrheit absprechen. Und noch schlimmer: die Richtungen, die zu Gewalt aufrufen oder sich mit extremen politischen Ansichten verbinden! –

Manchmal kann man „genug bekommen“ von den Kirchen und Religionen. Verständlich, wenn manche Menschen dem überhaupt den Rücken kehren und denken, ohne Religion sähe die Welt friedlicher aus!

Und doch muss die Friedensarbeit wohl auch hier beginnen, damit Menschen aus verschiedenen Kulturen mit verschiedener Religion sich verstehen können.

Die Vielzahl der Religionen allein gibt schon eine Aufgabe auf. Denn alle erheben einen Wahrheitsanspruch. Aber alle können wohl nicht wahr sein, sie widersprechen sich.

 

Verschiedene Wahrheiten?
In der Tradition gibt es verschiedene Wege, mit dieser Frage umzugehen. Der eine ist der sog. Exklusivismus. Da beansprucht eine Richtung die Wahrheit für sich alleine. Wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehört, ist im Irrtum, und schlimmer, er hat keinen Anteil am Heil.

Ein anderer Weg ist der Inklusivismus. Da gibt man zu, dass auch Menschen in anderen Religionen eine gewisse Gotteserkenntnis haben. Sie leben ja in derselben Welt, die Gott geschaffen hat. Und die Natur ist wie ein Buch, in dem etwas über Gott gelesen werden kann. „Ich finde Gott in der Natur“, sagen ja auch bei uns viele Leute. Die volle Offenbarung finde sich aber nur im heiligen Buch dieser Religionsgemeinschaft.

Dieser Weg wertet also andere Religionen ebenfalls ab: Sie haben einen Teil der Wahrheit, aber nicht die ganze. Es ist schwer vorstellbar, wie auf dieser Basis ein friedliches Zusammenleben der Religionen möglich sein soll. Ja, soll man denn alle für wahr halten – ohne Unterschied?

Diesen Weg geht der sog. Relativismus. Er will alle Religionen würdigen und mit gleichem Recht behandeln. Dafür wird der Wahrheitsbegriff zurückgenommen. Was eine Religion verkündigt, das gilt nicht für alle Zeit, es gilt nur für die Kultur, in der sie steht. In anderen Kulturen gibt es andere Religionen. Auch sie sind ein Ausdruck ihrer Zeit. Alle Religionen sind gleich gültig. – Das Problem dieser Richtung liegt auf der Hand: Wenn alles „gleich gültig“ ist, dann wird alles „gleichgültig“. Eine Wahrheit, die nur eine von vielen ist, ist keine Wahrheit.

Dass es viele Religionen gibt, das gibt uns Fragen auf. Was ist das überhaupt für eine Wahrheit, die die Religion verkündet? Vielleicht führt uns diese Frage weiter.

 

Gewissheit
Wir haben zwei Texte gehört aus der Bibel. Der Apostel Paulus warnt uns: Der Streit mit Worten ist nutzlos und verstört die Menschen. Der Evangeliums-Text, den wir gehört haben, macht es aber nicht einfach. Innerhalb der christlichen Bibel ist der Evangelist Johannes wohl die Stimme, die den Wahrheitsanspruch am höchsten stellt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich!“ sagt Christus bei Johannes.

Kann man die Exklusivität dieses Heilsweges noch mehr zuspitzen? – Wenn man diesen Satz aus dem Zusammenhang nähme, könnte man ihn andern Menschen „um die Ohren schlagen“. Dann gehören sie entweder zu den Verdammten, die nicht gerettet werden, oder sie müssen sich zu diesem Weg bekehren. Da geht der Streit so richtig los! Aber wir wollen den Satz nicht aus dem Zusammenhang nehmen.

Vielleicht verrät uns gerade der Zusammenhang, wie er gemeint ist? –

Der Satz redet mit einer absoluten Gewissheit: „Ich bin der Weg, keiner kommt zum Vater als durch mich“. Aber die Situation, in der das gesagt wird, ist alles andere als gewiss. Die Menschen, die zu dieser Gemeinschaft gehören, werden abgelehnt, sie werden verfolgt und angeklagt. Ihr Anführer wird hingerichtet.

Die absolute Sicherheit, die dieser Satz ausstrahlt „ich bin der Weg“ – das kontrastiert auffallend zu dieser absoluten Gefährdung der Situation, in der sich die Jünger befinden. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was diese Menschen jetzt fühlen. Sie sind bis ins Mark verunsichert und verängstigt.

 

Ungewissheit
Das ist die Situation, von der Johannes erzählt, das ist der Zusammenhang, in dem diese absoluten Sätze stehen. Johannes erzählt, wie Christus seine Jünger vorbereitet: Es wird eine schwierige Zeit kommen. Ihr werdet euch allein fühlen, sagt er im Voraus. Aber ihr werdet nicht allein sein.

Wie soll das möglich sein? – Christus wird auferstehen, sagen wir vielleicht schnell. Er wird bei ihnen sein im Heiligen Geist. Das ist die Antwort im Glauben. Im Leben muss eine solche Antwort erst wachsen. Wer so etwas erlebt, wie die Jünger, wer so verfolgt und abgelehnt wird, der fühlt sich von Gott und der Welt verlassen. Es ist eine Erfahrung, die sich tief eingräbt ins Gedächtnis – auch ins kollektive Gedächtnis dieser Religionsgemeinschaft. Es ist der Karfreitag, und man betet noch heute an diesem Tag den Ps 22: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

In diese traumatische Verletzung hinein spricht Christus sein heilsames Wort: Ich gehe hin, aber ich komme wieder. Ihr seid nicht verlassen, ich bin da. (Joh 14)

 

Das Trauma und die Heilung des Vertrauens
„Ich bin da“ – das ist die Gewissheit des Glaubens, das ist der Satz, mit dem sich Gott schon im Alten Testament offenbart: Ich bin da!

Er ist gegenwärtig – und Glauben heisst: leben in diesem Vertrauen. –

Das ist ein Wechsel der Perspektive. Die Wirklichkeit wird nicht nur angesehen mit den Augen der äusseren Erfahrung, denn diese sehen nur Karfreitag. Die Wirklichkeit wird angesehen mit den Augen der inneren Gewissheit. Und diese weiss, dass gegen allen Anschein Gott da ist und uns nicht verlässt.

Keine Angst, sagt Christus, ich komme wieder. Und für die Zwischenzeit, wenn ihr euch allein fühlt, habe ich euch den Weg gezeigt, wo ihr gehen könnt.

Was ist das für ein Weg? fragt der Jünger Thomas.

Der Winter gibt uns ein Bild, das uns verstehen hilft. Im Winter ist der Weg oft verschneit. Wenn man draussen unterwegs ist, geht man hintereinander. Der Vordermann hinterlässt seine Fuss-Spuren im Schnee: Man sieht, wo man den Fuss hinsetzen kann ohne abzugleiten. So ist es auch mit dem Lebensweg, den Christus gezeigt hat. Im Winter sind alle Gelände-Zeichen von Schnee verdeckt. Dank dieser Spuren weiss man jetzt, wo der richtige Weg durchführt. Weil einer vorausgegangen ist und seine Spuren hinterlassen hat, läuft man nicht Gefahr, sich zu verirren. So wird der Glaube zu einem Weg. Auf ihm wird das Gehen leichter. Er führt zu einem Ziel, das man allein nicht erreichen könnte. Und er hilft bei Schritt und Tritt.

 

Ein Weg, keine Theorie
Die Texte aus der Bibel haben uns besser verstehen gelehrt, was hier gemeint ist. Die Wahrheit, von der die Religion redet, ist nicht eine „theoretische Wahrheit“, über die man wissenschaftlich entscheiden könnte. Es ist eine „Wahrheit des Weges“. Sie antwortet auf die Fragen von Menschen, die auf dem Weg sind. Es ist nicht Spekulation, nicht Wissenschaft, nicht Philosophie, wie man sie in der Antike trieb, wo man beim Essen „zu Tische lag“ und einen Gegenstand erörterte. Im Glauben geht es um Lebensfragen.

Wenn man selber einen Weg geht, ist es nicht gleichgültig, ob man bei einer Kreuzung links oder rechts geht. Diese Frage interessiert nicht nur theoretisch, davon hängt ab, ob man sich verirrt oder nicht, ob man vor der Dunkelheit eine Herberge findet oder ob man Gefahr läuft, draussen zu erfrieren…
Den rechten Weg finden, das ist eine Aufgabe auf Leben und Tod.

Wenn ein Seiltänzer ein Seil über einen Abgrund spannt, prüft er zuerst, ob es hält, bevor er seinen Fuss darauf setzt. Wer sein Leben einem Weg anvertraut, muss vertrauen können, dass der Weg ihn ans Ziel führt. Und je ungewisser seine Situation ist, desto stärker muss er vertrauen können.

 

Das Seil über den Abgrund
Daher kommt die Absolutheit dieser Vertrauensaussagen. Darum reden Religionen mit einem so hohen Absolutheits-Anspruch. Dieser richtet sich nicht nach aussen, gegen andere Religionen, die sind hier gar nicht im Blick. Er richtet sich nach innen, an die Menschen, die auf diesem Weg sind. Diese Sätze wollen nicht andere Religionen schlecht machen. Sie wollen niemanden auf diesen Weg zwingen. Sie wollen aber denen, die auf diesem Weg sind, Mut machen.

Sie brauchen diese Gewissheit: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ So kann man sich mit seinem Leben diesem Weg anvertrauen. So kann man den Weg gehen. So kann man ans Ziel finden.

 

Der Weg und die Leiter
Ich möchte mit zwei Bildern schliessen, die das Gesagte zusammenfassen.

In der islamischen Mystik gibt es ein Bild, wie Religionen sich verstehen können: Da wird die Religion betrachtet wir eine Himmelsleiter. Zwei Religionen sind wie ein Bockleiter, die unten weit auseinander steht, aber oben zusammenführt. Je höher die Menschen auf dieser Leiter steigen, je näher sie Gott kommen, desto näher kommen sie sich auch gegenseitig. –

So können Religionen sich verstehen, auch wenn sie nur ihrem eigenen Weg folgen. Je näher sie Gott kommen, desto näher kommen sie sich gegenseitig. –

Was ist also der Weg, wie wir näher zu Gott kommen? – In Ravenna gibt es in einer Kirche ein Mosaik, das zeigt Christus, wie er ein Buch hält. Darauf steht der Satz, den wir kennen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Das Bild zeigt aber noch mehr: Mit dem rechten Fuss steht Christus auf einem Löwen, mit dem linken Fuss auf einer Schlange, auf der Schulter trägt er das Kreuz. Dieses Bild zeigt, wie der Satz gemeint ist: Ich zeige euch den Weg zu Gott: Es ist nicht der Weg der Gewalt wie der Löwe ihn zeigt, und nicht der Weg der List wie die Schlange ihn symbolisiert. Ich gehe den Weg der Demut, und doch ist dieser stärker als die Kraft. Ich gehe den Weg des Glaubens, und doch ist er weiser als die Weisheit der Menschen. Das Ziel ist aus menschlicher Kraft allein nicht zu finden. Aber im Vertrauen auf Gott, in der Nachfolge auf meinem Weg. „Nimm aber dein Kreuz auf dich und folge mir nach.“

 Das ist die völlige Umkehrung der Verhältnisse: Nicht mehr nur auf sich vertrauen, denn diese Kraft ist gekreuzigt, auch die menschliche Vernunft ist gekreuzigt, sondern auf Gott vertrauen – so beginnt ein neues Leben.

So hat Gott am Gekreuzigten gehandelt: Er schenkt Leben, er wahrt das Recht, er richtet den Gebeugten auf, er erweckt den Getöteten zu neuem Leben, er ist Quelle des Lebens. Darum sagt der Beter im Psalm: „Ich habe den Herrn allezeit vor Augen. Steht er mir zur Rechten, so wanke ich nicht. Darum freut sich mein Herz, und frohlockt meine Seele. Du tust mir kund den Weg zum Leben.“ (Ps 16)

 

Biblische Texte zum Gottesdienst
„Streitet nicht um Worte! Denn das ist nutzlos, und es verstört die, die es hören“. „Aber Gott hat die Liebe ausgegossen in unsere Herzen.“ (2. Tim 2,14; Röm 5,5)

„Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und vertraut auf mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. (…) Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten? (…) Dann will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe, wisst ihr den Weg. Da sagt Thomas: Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst; wie können wir den Weg wissen? (…) Jesus sagt zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. (…) Und was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun. (Joh 14, 1ff)

 

Nach einem Gottesdienst von 2009