Glaube – wenn es drauf ankommt

Woran glauben wir? Das scheint eine Frage für „Fromme“, und doch sind wir alle jeden Tag in gewisser Weise vor diese Frage gestellt, denn mit allem, was wir tun oder nicht tun, zeigen wir ja, was uns wichtig oder unwichtig ist. Das fängt bei banalen Dingen an wie der Wahl der Unterhaltung am Feierabend. Aber es kriegt schon viel mehr Gewicht, wenn wir unser Berufsleben ansehen.
Was ist mir dort wichtig? Kämpfe ich nur um meine Anerkennung? Kann ich mich mitfreuen, wenn andern etwas gelingt? Wie wir reagieren, hängt von unserer Situation und von unserem Charakter ab. Aber wir würden uns mit Recht wehren, wenn wir jetzt aufgrund von solchen Verhaltensweisen beurteilt oder gar abqualifiziert würden. Denn vielleicht benehmen wir uns in andern Situationen ganz anders!

So kannte ich mich noch nicht
Nun gibt es aber Situationen, die uns in die Enge treiben, wo uns nicht beliebig viele Wege offenbleiben. Vielleicht gibt es nur zwei Antworten: so oder anders. Hier scheiden sich die Wege und hier ent-scheidet sich, wo wir stehen. Hier offenbart sich, worauf wir letztlich vertrauen. Hier erfahren wir vielleicht selber zum ersten Mal, woran wir glauben, wenn es wirklich drauf ankommt.

So war es in den 30er Jahren. Damals herrschten in fast ganz Europa totalitäre Regime, die sich in alle Lebensbereiche einmischten. Es gab kaum mehr einen privaten Raum, in dem es einem freistand, sich so oder anders zu verhalten. Die Richtung war vorgegeben, und die war gewalttätig und menschenverachtend. Alles Schwache und Fremde sollte ausgerottet werden. Ein Kult der Nation und der „Lebenstüchtigkeit“ wurde aufgerichtet. Es gab wenige, die opponierten und dafür verfolgt wurden. Aber es nützte auch nichts, sich vom politischen Streit fernzuhalten. Denn es wurde niemand in Ruhe gelassen. Das System drängte sich in alle Bereiche des Lebens vor.

So musste – bewusst oder unbewusst – jeder Farbe bekennen. Mit allem, was er tat oder nicht tat, zeigte er, woran er letztlich glaubte: ob er mit den Wölfen heulte, um sich selbst zu retten, oder ob er versuchte, für Gerechtigkeit und Toleranz einzustehen, auch wenn es Gefahr brachte. Hier stellte sich die Glaubensfrage nicht nur für „Fromme“ und nicht erst an der Kirchentür, sie stellte sich mitten im Alltag. Sie entschied sich nicht im Kirchenbesuch, sondern darin, mit welchen Freunden man verkehrte oder wo man den Kontakt lieber abbrach…

Undeutliche Konfliktlinien
Und heute? Heute sind die totalitären Regimes, Gott sei Dank, zusammengebrochen. Der Alltag stellt uns nicht dermassen auf die Probe. Die Konfliktlinien zwischen Verantwortung und Kollaboration liegen nicht so offen zutage. Heute etabliert sich das Unrecht nicht mit Fahnenmärschen und Bücherverbrennungen – jedenfalls in unserem Land. Da gibt es keine „Kristallnacht“, wo unter Gejohle Schaufenster von Minderheiten eingeschlagen werden. Da wird die Wende zum Unrechts-Staat nicht so markant eingeläutet wie mit dem Reichtags-Brand: zum Zeichen, dass jetzt die Strasse regiert und Parlament, Justiz und Rechtsstaat abgehalftert haben.

Heute ist alles diffuser. In der weltumspannenden Wirtschafts-Gesellschaft sind viele Verantwortlichkeiten bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Denn was wir in der Schweiz tun, spüren wir oft nicht selber, das wirkt sich irgendwo anders auf dem Globus aus. Kosten und Nutzen zeigen sich an verschiedenen Orten. So zahlt sich für uns ein Verhalten scheinbar noch lange aus, wenn die Gesamtbilanz längst in die roten Zahlen gerutscht ist.

Die Meldeläufer
Trotzdem ist auch der Weltglobus nicht unendlich gross. Die Wellen, die unser Verhalten über den Globus schickt, schlagen allmählich auch an unser Ufer zurück. Allmählich spüren auch wir, was wir anrichten, im Guten wie im Schlechten. Das weltweite Klima ist einer dieser Meldeläufer, die Ozonschicht in der Stratosphäre ein anderer. Auch in den weltweiten Flüchtlingsströmen und im Asylproblem meldet sich ein Echo auf unser Tun und Unterlassen.

Wir könnten also wissen, was wir tun. Die Zeichen sind da, wenn sie auch nicht an der Wand stehen wie damals mit dem Reichtagsbrand. Noch können wir in Ruhe leben, nach der Maxime: „Wenn ich mich nicht in politische Händel mische, werde auch ich in Ruhe gelassen.“ Aber es wird zunehmend schwierig. Es erfordert zunehmend mehr Kraft, die Augen zuzudrücken und die Ohren zuzuhalten.

Und damit ist die Situation wieder da: jene Situation, die uns zur Entscheidung fordert, die offenbart, worauf wir letztlich vertrauen. Auch uns stellt sich die Glaubensfrage wieder, nicht in der Kirche, sondern mitten im Alltag. In der Art, wie wir den Feierabend verbringen oder wie wir morgens zur Arbeit fahren. Aber noch ist es ganz unbewusst. Der Konflikt hat sich noch nicht dermassen zugespitzt, dass uns bei unserm Tun schon bewusst würde, was wir tun.

Der Kaiser ist nackt
Aber es fehlt nur noch ein kleines bisschen. Es ist wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Es braucht nur ein kleines Kind, das ausspricht, dass der Kaiser nackt ist. Es fehlt nur wenig, dass alle sehen, was sie schon wissen: z.B. dass wir uns schon lange nicht mehr Richtung „Fortschritt“ entwickeln, dass wir seit einigen Jahrzehnten auf vielen Gebieten des Lebens gewaltige Rückschritte machen.

Oder dass ganze Gesellschafts-Schichten heute aufgerieben werden. Die Bauern, die jahrhundertelang zu den staatstragenden Schichten gehörten, werden der weltweiten Integration geopfert. Und zunehmend wird auch der Mittelstand ausgedünnt, die Gesellschaft polarisiert sich…

Noch an vielen Orten ist der Kaiser nackt, und wir wollen es nicht sehen. Das Kind könnte auch sagen: „Wir leben in einer Umweltkrise, sie steht nicht als unbestimmte Gefahr in einer fernen Zukunft, sie ist schon da.“ Wenn das einer so sagen könnte, dass wir alle sehen, was wir schon wissen, dann würde sich von heute auf morgen unser Bewusstsein verändern. Dann wechselt mit einem Schlag unser Lebensgefühl. Dann wäre von einem Moment auf den andern nichts mehr so wie vorher, obwohl sich objektiv gar nichts verändert hat.

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998. Der Text ist von 1993.
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