Von Spinnen und von Freunden

Gottfried Keller über unser Verhältnis zur Natur

 Gottfried Keller (1819 – 1890), der dieses Jahr seinen 200. Geburtstag feiern könnte, schreibt im Alter ein Gedicht über Spinnen. Es wird ihm zu einem Bild für unser Verhältnis zur Natur.

 

Spinnen waren mir auch zuwider
All meine jungen Jahre,
Liessen sich von der Decke nieder
In die Scheitelhaare,
Sassen verdächtig in den Ecken
Oder rannten, mich zu erschrecken,
Über Tischgefild und Hände,
Und das Töten nahm kein Ende.

 Erst als schon die Haare grauten,
Begann ich sie zu schonen
Mit den ruhiger Angeschauten
Brüderlich zu wohnen;
Jetzt mit ihren kleinen Sorgen
Halten sie sich still geborgen,
Lässt sich einmal eine sehen,
Lassen wir uns weislich gehen.

 Hätt’ ich nun ein Kind, ein kleines,
In väterlichen Ehren,
Recht ein liebliches und feines,
Würd’ ich’s mutig lehren,
Spinnen mit den Händen fassen
Und sie freundlich zu entlassen;
Früher lernt’ es Friede halten
Als es mir gelang, dem Alten.

 

Gottfried Keller erinnert sich an sein Leben. Es scheint eine biographische Anekdote, wie er sich als Kind vor Spinnen graute. Es ist aber mehr als eine Anekdote. Für Keller wird das Erlebte zu einem Bild, wie Mensch und Tier zu einem anderen Verhältnis finden könnten. Fände er nur eine andere Einstellung zur Natur, so würde der Mensch auch sich selber anders verstehen lernen, ist Keller überzeugt.

Denn die Natur lebt ja nicht nur ausserhalb. Sie begegnet ihm auch in seinem Innersten. Auch hier gibt es Abwehr und Erschrecken, wenn die Natur sichtbar wird mit ihren Impulsen und Bestrebungen. Auch hier gibt es Herrschaft, Unterwerfung, Abtöten. Ein „brüderliches Zusammenwohnen“, wie Keller es schildert, würde auch die Kultur verändern, die Zivilisation. Man müsste weniger abgrenzen, kontrollieren, unterwerfen. Es würde helfen in Frieden zu leben, nicht nur mit der „Kreatur“, sondern auch mit sich selbst und mit andern Menschen.

Ist das naiv? Deckt es einen geheimen Grund auf, warum unsere Zivilisation einen derart natur-zerstörerischen Gang geht? Es erinnert an eine Vision des Propheten Jesaja (Jes. 11, 6-9). Dieser kann den Frieden nur ganz und unteilbar sehen: unter den Menschen und zwischen Mensch und Natur.

Die Sorge um Leben und Umwelt beschäftigt heute viele Menschen. Es geht nicht nur um Tierschutz. Es geht um die Erhaltung der Arten, der Umwelt und damit des Menschen selbst.

Aus „36 Ansichten des Berges Fuji, Notizen 2009“