Beten, zumal öffentliches Beten, scheint seine Zeit hinter sich zu haben. Der Bettag, den die Kirchen im Herbst feiern, geht zurück auf eine Anordnung des Obrigkeits-Staates. In einer Krise sollte Gott um Beistand gebeten werden. Vielleicht hat das Beten aber auch eine Zeit vor sich? Es muss nicht nur ein angstvolles um-Hilfe-Rufen sein.

Gletscher
Vor einigen Jahren berichteten die Zeitungen von einem Priester in den Walliser Bergen. Früher hätten sie dafür gebetet, dass der Gletscher nicht weiter vorstosse, sagte er der Zeitung. Jetzt beteten sie dafür, dass die Gletscher nicht völlig verschwänden und die Bäche austrockneten.

Dürre
In diesem Sommer gab es in vielen Ländern eine Dürre. In Italien wurde in manchen Gemeinden das Wasser rationiert. Swimmingpools, Autowaschanlagen und Gärten – «was nicht unbedingt sein muss, soll kein Trinkwasser mehr bekommen», heisst es im «Tages-Anzeiger» vom 25.6.2022. «Der WWF Italien appellierte an die Bürgerinnen und Bürger, sie möchten doch weniger duschen und weniger waschen.» Ähnliche Empfehlungen gibt es heute bei der Stromknappheit.

«Don Pierluigi Valdonio betet täglich mit den Kindern der Sommerschule um Regen», heisst es im «Tages-Anzeiger» vom 9.7.2022. «Als Kind hat der 73-Jährige noch richtige Regenprozessionen erlebt. Man ging über die Felder und bat um Regen. ‘Wir haben nicht mehr die bäurisch geprägte Gesellschaft von früher. Aber jetzt scheint mir dieses Gebet wieder aktuell.’»

Fliegen
Beten – städtisch lebende Menschen erleben es vielleicht noch beim Fliegen, einen Anflug von Sorge, eine Erinnerung, dass da etwas sei, an das man sich wenden kann, wenn der Sitz im Flugzeug keinen Halt verspricht, weil man buchstäblich in der Luft hängt.

„Warum bete ich beim Fliegen und will nachher nichts mehr davon wissen?“ So fragte sich ein Kollege von mir. Jahrelang habe er sich nicht daran gestört, aber plötzlich sei es ihm eine Frage geworden. „Ich kam mir vor wie ein Zebra“, sagte er. „Da weiss man auch nicht, sind es weisse Streifen auf dunklem Fell oder dunkle Streifen auf hellem Fell?“ Er meinte damit die Frage: „Bin ich eigentlich ein säkularer Mensch, für den der Glaube keine Rolle spielt und bete ich nur in Notsituationen? Oder bin ich ein religiöser Mensch und das bricht durch in solchen Momenten? Sonst weiss ich gar nichts davon.“

Wer bin ich?
„Im ersten Fall fände ich das billig“, meinte mein Kollege. „Dann wäre es ehrlicher, auf das Gebet ganz zu verzichten. Wenn ich das aber nicht kann oder will, dann stellt sich die Frage, was das denn heissen würde – ein religiöser Mensch zu sein? Müsste sich das nicht auch zeigen zwischen den Notsituationen?“

Er fing an, die hellen und dunklen Streifen in seinem Leben zu sortieren. Es war ein spannender Weg, und er dauert heute noch an. Ob er gläubig ist oder ungläubig kann er immer noch nicht in einem Wort sagen. Es ist ein Suchweg, der nicht nur seinen Kopf beansprucht. Auch sein Umgang mit Ängsten, Sicherheit und Vertrauen ist ihm zu einer Frage geworden, die Frage, wer er überhaupt ist und wie er Beziehungen gestaltet. Sein Leben taucht wieder auf vor ihm, die Geschichte von Verletzungen, die Frage von Wachsen und Heilen.

Freude am Leben
Manche Menschen mit Flugangst beten. Das könnte die Hypothese stärken, dass die Religion aus der Angst geboren sei. Die Menschen hätten sich Gott erfunden, um ihre Daseins-Angst zu beruhigen. Der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin sagt in einem Brief, er denke vielmehr, die Religion sei aus der Dankbarkeit geboren. Im Glück möchten die Menschen danken, darin liege eine Ahnung von Gott. In der Geborgenheit, die sie darauf erfahren, finden sie dann auch einen Zugang, wenn sie um Hilfe bitten.

 

Foto von Enrique Hoyos, Pexels