Redlichkeit

Zwei Tage waren wir im Elsass. Das Land hat eine Geschichte zwischen den Grossmächten. Manchmal hat die Herrschaft in kürzester Zeit gewechselt. Das konnte man gar nicht verinnerlichen, man musste einen Weg «dazwischen» suchen.

Was ich vorher nicht wusste: Es wurden immer wieder Zehntausende Menschen deportiert, Hunderttausende zum Kriegsdienst eingezogen. Wie reagiert man darauf? Die Frage ist zunächst historisch, sie interessiert aber auch in heutigen Konflikten. Bei meinem Besuch fand ich drei Antworten. Es sind Möglichkeiten auch des einzelnen Menschen, der zwischen Ansprüchen zerrieben wird, der eine Ordnung nicht einfach verinnerlichen kann.

Der Kämpfer
Jean-Jaques Waltz, bekannt als «Hansi», der die putzigen Kinderbücher schrieb, der das Elsass-Bild der kindlichen Heimat-Idylle schuf, war ein französischer Patriot. Er floh vor den Deutschen nach Frankreich, später vor den Nazis in die Schweiz. Er war der Kämpfer trotz der Niedlichkeit seiner Bilder.

Eine andere Möglichkeit begegnete mir im Lied vom „Hans im Schneggeloch“. Das gilt im Elsass als selbstkritische Nationalhymne. Das Lied ist nicht so harmlos, wie es in der Schweiz gesungen wird. Es geht nicht um den Ewig-Unzufriedenen, der sich nicht entscheiden kann. Es geht um den, der zwischen Ansprüchen zerrieben wird.

De Hans im Schnakeloch
saad alles, was er will
Un was er saad,
des denkt er nitt.
Un was er denkt,
des saad er nitt.

De Hans im Schnakeloch
dut alles, was er will.
Und was er dut,
Des soll er nitt.
Und was er soll,
des dut er nitt.
De Hans im Schnakeloch
dut alles, was er will.

Schneckentum als Überlebenstaktik
Tomi Ungerer hat eine eigene Theorie über die Herkunft dieser Schneckenloch-Taktik:

„Inzwischen sind wir eine gut verheilte Narbe auf der Karte Europas. (…) Wir haben viel Kontakt mit Deutschland, aber die meisten dieser Kontakte sind geschäftlich. Ich habe mal gefordert, jeder Elsässer müsse einen Brückenkopf auf seinem Rücken tragen. So weit sind wir noch lange nicht. (…)

Der Elsässer hasst die Gewalt, auch die Gewalt von Argumenten. Wenn die mit Arroganz daherkommen, ob von einem Deutschen oder einem Franzosen, dann schliesst er sich ein. Das nenne ich seinen «escargotisme», sein Schneckentum. Wir ziehen uns einfach zurück. Wir sind wie Schnecken: sehr empfindlich. Aber wir haben vier Augen, zwei deutsche und zwei französische. Es gab auch keinen Riesenwiderstand gegen die Nazis. Die Elsässer haben sich einfach zurückgezogen, in kleine Subversionen: individuelle Aktionen wie Deserteure über die Grenze bringen. Schnecken können nämlich, als einzige unter allen Tieren, über eine Rasierklinge schleichen, ohne sich zu schneiden.“ (Aus einem Interview).

Das ist der Weg des Rückzugs, des privaten Ungehorsams, des Sich-Zurückziehens auf sich selbst. Da wird kein Anspruch erhoben für das Allgemeine, das erzeugt eher Misstrauen. Wo solche Ansprüche auftreten, weckt das Erinnerungen an Überrollt-Werden. Ein solcher Mensch ist kein „Führer“, er wird nie andere mit sich reissen. Er ist ein Anti-Führer.

Im Konflikt der Ansprüche
«Und was er dut, des soll er nitt. Und was er soll, des dut er nitt.» Er misstraut den allgemeinen Ansprüchen, ob sie im Namen der Moral auftreten oder der Wahrheit oder gar der Nation. Es ist ihm recht, dass die Norm unklar ist, dass sie immer wieder anders auftritt, so kann er sie gegeneinander ausspielen. Das Land, das er gewinnt, ist aber an einem kleinen Ort: es ist das Schneckenloch. Das ist der Weg des Rückzugs, der alles Überschiessende am liebsten ins Leere laufen lässt, indem es das eine gegen das andere ausspielt.

Redlichkeit
Der dritte Weg ist der Vermittler, das ist das, was Tomi Ungerer wohl trotz allem war. Durch eine grosse Treue zu sich selbst, zum Aussprechen der Erfahrung. So blieb nicht alles beliebig. Es stand da und behauptete seinen Platz. Er musste die Kritik einstecken. Es war eine subjektive Erfahrung und behauptete doch eine Wahrheit, die Wahrheit des Erlebten. Wer mochte, konnte sich anschliessen. Es ist keine proklamative Wahrheit. Sie ist vielfach gebrochen, ironisch verfremdet. Sie wird gezeigt im Licht der Verachtung, und dadurch doch wieder gewürdigt.

Das ist ein Wahrheitsanspruch: Redlichkeit. Er geht nicht auf das Grosse wie Wahrheit, er sucht nicht die Zugehörigkeit zur siegreichen Partei. Es ist ein Weg, auf dem man gehen kann und der anderen Raum gewährt.

 

Aus Notizen 2009
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