Das Leben selbst

Morgen ist der Todestag meines Vaters. Alles geht so schnell vorbei. In mir ist alles noch lebendig, ich möchte am liebsten hingehen und meine Eltern besuchen. Aber dort sieht alles anders aus, neue Häuser stehen da, das Grab meiner Eltern liegt anderswo auf dem Friedhof.

Was ist das eigentlich: ein Leben? Mein ältester Bruder – vieles erinnert mich hier an ihn – ist schon gestorben. Die andern sind in die Jahre gekommen. Wer weiss, wie lange ich sie noch habe. Jene “unendliche Zeit“, die ich in mir drin spüre, wo alles noch Gegenwart ist, und wo man in der Zeit rückwärts und vorwärts fahren kann und alles ist gleichzeitig – in der Aussenwelt ist diese Zeit sehr begrenzt. Es ist, als ob die Wirklichkeit verzaubert wäre. Was ich sicher weiss, ich finde es nicht. Woran ich mich genau erinnere, es ist nicht mehr da. Und das, was ich finde, von dem weiss ich nichts.

Vor drei Wochen bin ich 58 Jahre alt geworden. Fast 60, dachte ich, und bin nachträglich erschrocken. 60 ist so etwas wie eine Grenze. „Vorher“ ist das aktive Leben, die Zeit, die man zur Verfügung hat, „nachher“… Die Zahl mahnt mich wie das schlechte Gewissen: Die Zeit vergeht, bald ist sie zu Ende, ich sollte…! Aber was sollte ich? Die Zahl weiss nichts, sie drängt und mahnt und verbreitet Hektik. Als ob ich etwas verpasst hätte, gegen besseres Wissen, und bald wird es sich rächen. Aber was habe ich verpasst? Weiss ich es denn? Wo steckt das Wissen über das richtige Leben, wenn nicht im Kopf? Das schlechte Gewissen behauptet eine Verantwortung, von dem der Rest nichts weiss.

Was ist das, ein Leben? Mein Leben? Was wird es sein, wenn es fertig ist? Habe ich nicht vieles schon vertan und verpasst? Überall stehen die Schilder „man sollte!“ – Was ist ein Leben, wenn man alles falsch macht?

Der rote Faden im Leben
Das Leben ist ein Rätsel, ich verstehe mich nicht darauf. Wozu das alles? Ich habe es nicht im Griff. Soll ich mich treiben lassen? Das wäre unberechenbar, es würde mir Angst machen. Aber wie soll ich etwas angehen, was ich nicht in der Hand habe? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Habe ich Ja gesagt zum Leben? Bin ich etwa gefragt worden? Oder gibt es ein Ja im Nachhinein? Ich habe den Anfang nicht gewollt. Als ich älter wurde und zu denken begann, habe ich mich vorgefunden in dieser Welt. Und es gab keine Gebrauchsanweisung zum Leben.

Soll man das Weg nennen, wo ich drauf gehe? Hat es einen Anfang und ein Ziel? Oder ist es einfach eine Spur, weil hier viele schon gegangen sind? Einer läuft dem andern nach und die Füsse treten einen Pfad ins Gras, aber der führt nirgends hin. Ist es nicht wie damals, als ich mich im Wald verirrte. Da stiess ich auf einen Weg. Aber ich freute mich zu früh. Das war nicht der Weg in ein Dorf. Er führte weiter in den Wald hinein und endete an einem Platz, wo man Holz schlägt – ein Holzweg.

Und wo stehe ich heute? Habe ich die Hälfte schon geschafft? Kommt noch viel? Liegt der Aufstieg jetzt hinter mir? Kann ich eine Pause einlegen, den Rucksack auspacken und essen und trinken? Wo ist die Mitte auf diesem Weg? Wo ist der Ort, wo ich zur Ruhe komme? Wie soll ich an ein Ende glauben, das nicht schrecklich wäre, weil es von aussen einbricht wie der Anfang? Ich kann nicht immer abwehren. Eines Tages mag ich nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr.

Und doch spüre ich, wenn ich auf das Leben zurücksehe, immer auch so etwas wie einen Weg. Aber er zeigt sich erst im Nachhinein. Da finde ich etwas in der Erinnerung und dort etwas anderes, und im Nachhinein gibt es eine Verbindung, die ich damals nicht gesehen habe. Manches fügte sich im Leben. Ein Erlebnis fällt mir ein, es war schrecklich. Und so lang es dauerte, wehrte ich mich dagegen. Aber nachher hat es sich als gut herausgestellt. Mein Leben machte damals einen grossen Schritt. Als ob im Fotoalbum eine Seite umgeblättert würde und ein neues Kapitel erscheint.

Hinterher gibt es vielleicht so etwas wie eine rote Linie in meinem Leben. Aber das war nichts, dem ich bewusst gefolgt wäre. Hätte ich dem folgen können, wenn ich es früher gewusst hätte? Hätte ich mich weniger gesträubt? Chancen deutlicher ergriffen? Kann man seiner roten Linie folgen? Oder heisst das, beim Wandern den Höhenkurven entlang gehen wollen, weil sie auf der Karte aussehen wie ein Weg?

Das Fest
Wenn es einen Weg gibt durch das ganze Dickicht – wie soll ich ihn gehen können, wenn er sich erst im Nachhinein zeigt? Ein Weg ist ein „Weg“ durch ein Ziel, zu dem er führt. Ich habe aufgegeben, mir Ziele zu setzen, die ich doch nicht erreichen kann. Auf der anderen Seite kenne ich die Sehnsucht nach Ankommen. „Ankommen“ – das ist nicht „Ende“. Das Bild eines Festes stellt sich ein. Ein Garten, ein grosser Tisch ist gedeckt, viele Menschen sitzen beisammen unter Bäumen. Ich möchte vorbeigehen, ich bin ja fremd. Aber da kommt einer mir entgegen. Er ist es und lädt mich ein. Auch ich gehöre dazu. Auch für mich ist der Tisch gedeckt. Und alle sind da…

Die Wohnung Gottes als Einkehr-Ort? Als Taverne? – Als Tabernakel, wo er den Tisch deckt. Er lädt zum Fest, es ist das Bild des Ankommens. Es ist die Kraft für den Weg. Darum geht es hier: um Taufe und Abendmahl. Um den Weg, der hinabführt in den Tod und wieder hinauf zu neuem Leben. Um das Mahl auf dem Weg. Um den Becher von jenem Tisch, an dem am Ende alle zusammen sitzen.

Aber wie finden wir zum Brunnen, der gespiesen wird aus jener Quelle? Wir ahnen etwas, sehen es nicht. Es ist wie im Traum gesehen. Wenn wir Licht anmachen, ist es weg. Und doch ruht es in uns selbst, wir tragen ein Wissen in uns. So wie einer das Bild der Geliebten in sich trägt, schon bevor er sie kennt. Und wenn er sie sieht, ist es wie Wiedererkennen. „Es ist als ob wir uns schon lange gekannt hätten“, sagen sie.

Das innere Bild
Etwas kommt an ein Ziel, das in uns angelegt war, wir wussten es nicht, aber wir ahnten es. Es erscheint uns in Träumen. Es hat den Weg gezeigt in einer Sprache aus Bildern. In dieser Sprache sind die Grenzen aufgehoben. Da gibt es nicht nur ein Stück Leben, sondern das Leben selbst. Da sind nicht nur ich und Du, auch mein Vater ist da, meine Mutter, meine Brüder, und alle Menschen, die vor mir waren. Und Jakob, der am Anfang stand der zwölf Stämme. Und Adam. Und der, der uns vom Ende her entgegenkommt. Er ist es, den wir als Bild schon lange in uns trugen. Und wir wussten es nicht. Aber wenn wir ihn sehen, ist es wie Wiedererkennen. Es ist, als ob wir uns schon lange gekannt hätten. Ich erkenne ihn wieder, und werde von ihm erkannt. Und das Leben findet die Gestalt, als die es schon immer gedacht war.

 

Aus Notizen 2007
Foto von Tatiana Syrikova, Pexels