Zwei Wahrheiten

Ein Rabbi kommt in den Himmel. Und da stellt sich heraus, er hat immer richtig gelebt, er hat alle Gebote erfüllt. Darum wird sein Name ins Buch des Lebens eingetragen. Da fragt ihn Gott nach der Stadt, in der er gelebt hat. „Gab es dort nicht ein schreckliches Blutbad, wo Unschuldige verfolgt wurden?“ „Ja, sagt der Rabbi, es war furchtbar.“ „Ja, hast du denn dagegen protestiert?“ „Nein“, sagt der Rabbi, „hätte es denn etwas genützt?“ „Ich weiss nicht, ob es den Verfolgten genützt hätte“, sagt Gott, „aber Dir.“

Leben mit zwei Wahrheiten
Die Frage bleibt offen. Es ist offen, ob wir die Geschichte verändern können, das Waldsterben stoppen, das Ozonloch wieder schliessen, noch mehr Krieg und noch mehr Flüchtlinge verhindern. Sogar Gott, in dieser Geschichte, beantwortet die Frage nicht. Aber er meint, dass es uns nützen würde, wenn wir protestierten. Es würde uns aus unserer Lähmung heraushelfen. Es würde verhindern, dass wir uns daran gewöhnen, dass wir doch nichts machen können. Es würde verhindern, dass wir anfangen, klein zu denken, von uns und unseren Möglichkeiten.

Es würde verhindern, dass wir zynisch werden und beginnen, in zwei Wahrheiten zu denken: in einer Wahrheit, die eigentlich gelten würde, die aber nicht für das Leben taugt, weil sie doch nicht praktikabel ist, und in einer Wahrheit, die wir eigentlich nicht für wahr halten, die aber scheinbar doch alles regiert und der wir die ganze Welt überlassen.

Man kann dieser inneren Spaltung Zynismus sage, man kann es aber auch als Krankheit beschreiben, weil man mit diesem Gemütszustand kein gutes Leben führt. Man kann in der Spaltung aber auch ein Zeit-Symptom sehen, weil heute der Glaube an die Politik verloren gegangen ist, das Vertrauen, dass wir verantwortlich eingreifen können in unsere Welt, und zwar so, dass wir auf der Höhe der Probleme stehen und nicht nur irgendwelche Ritualhandlungen abspulen, während wir den Kopf einziehen und der Entwicklung den Lauf lassen.

In der Möglichkeitsform leben
Da passt jetzt die andere Geschichte dazu, aber eigentlich ist es nur ein Grundsatz, eine Haltung, die in jenen Gruppen gewachsen ist, die sich gegen die Resignation wehren und versuchen, trotzdem etwas zu tun. Der Grundsatz heisst: so leben, als ob der Spielraum vorhanden wäre.

Wenn wir resignieren und uns den Spielraum zum Eingreifen absprechen, dann nehmen wir die schlechtest mögliche Lösung vorweg. Denn geschieht nichts, als ob wirklich nichts anderes möglich wäre.

Aber woher denn die Kraft nehmen, um sich zu engagieren? Werden wir heute nicht schon vom Berufsleben halb aufgefressen, so dass wir froh sein müssen, wenn wir über die Runden kommen? – Wenn wir uns so einschätzen, denn bleibt es auch dabei, und dann führen wir ein gestresstes Leben, ein Leben, das genau passt zu einer Welt, die wie gefangen ist in ihren Problemen.

Spielraum
Wir spüren jetzt, dass es hier nicht nur um die Welt geht, sondern auch um uns selber. Das hängt miteinander zusammen. Man kann nicht die Welt den Rinnstein runter laufen lassen und dabei ein gutes Leben führen. Wie die äussere Geschichte herauskommt, das wissen wir nicht, aber dass wir mit der Resignation nicht leben können, das wissen wir.

Und es ist noch gar nicht ausgemacht, dass wir nichts ausrichten können. So leben, als ob der Spielraum vorhanden wäre! Das gilt nach aussen und nach innen: Wenn wir nämlich anfangen und uns auf den Weg machen, dann entdecken wir auch in uns eine neue Seite, von der wir vorher nichts wussten. Auch in uns gibt es mehr Spielraum als wir meinen, Spielraum zum besseren Leben.

 

Nach einem Gottesdienst 1996
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