Die drei Reiche

Die Geschichte der drei Reiche, eine alte chinesische Erzählung, ist ein Höhepunkt der antiken Weisheits-Tradition, ähnlich wie die Thronfolge-Geschichten Davids im ersten Testament oder die Josephs-Legende. Da sind Staatsmänner am Werk, Strategen, die die Gesetze kennen, nach denen das Leben in Gesellschaft und Politik abläuft. Sie sind alles andere als naiv.

Strategien…
Und doch sind diese Strategeme für sie nicht das letzte. Der Weise wird bei ihnen hoch geehrt, der Ratgeber jener Mächtigen, welche als Statthalter oder „warlords“ auftreten, als Spieler im Spiel: „Wer reisst den Kaiserthron an sich und errichtet nach der Han-Dynastie eine neue Herrschaft?“ Der Weise ist hoch geachtet, sogar wenn er falsche Wege geht – so sehr achten sie Einsicht und Klugheit.

… und Himmels-Gesetze
Und doch ist das Ganze von einer unerschütterlichen Überzeugung getragen: Was sich letztlich durchsetzt, ist das Gesetz des Himmels, die «Richtigkeit». Und dazu gehören die Gesetze des Zusammenlebens, die Ethik in Familie und Staat.

Die Geschichte der Drei Reiche ist eben nicht das Produkt eines Schriftstellers, da haben Generationen mitgewirkt mit ihrer Lebenserfahrung, in einer langen Zeit der mündlichen Überlieferung, bevor es verschriftlicht wurde.

Realismus…
Die Geschichte der drei Reiche steht für genaues Hinschauen, für Realismus, für die Weisheitstradition. Das heisst für mich: den Weg zum Glauben suchen nicht unter Flucht vor der Realität, nicht unter Regression und Aufopferung des Denkens, sondern durch genaues Hinsehen. Denn dabei lässt sich entdecken, wie sich – durch alles hindurch, selbst durch die klügsten Ränke der Weltklugheit – der rote Faden durchzieht.

Das ist die „Weisheit“, wie es im Alten Orient hiess, die „Ma’at“ im Alten Ägypten, der „Ritus“ und „Logos“ der Römer und Griechen, die „Richtigkeit“, die über allem schwebt, das „Dao“, „der Weg“, der erkannt werden kann und der eine Hilfe ist, wenn man auf ihm geht, statt auf den Wegen der Gewalt und der Ränke.

… und Vertrauen
Dieses Vertrauen auf den „Weg“, der der Wirklichkeit selber eingestiftet ist, heisst aber nicht: harmlos werden, den Kopf einziehen, wegschauen, das Denken vergessen. Es bedeutet nicht, die im alten Leben gelernten Einsichten und Fertigkeiten zu verleugnen. Es heisst, sie zu schärfen, noch genauer hinzusehen, wobei man sich jetzt aber nicht mehr dem alten Weltbild ausliefert („den Letzten beissen die Hunde“, „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, etc.). Es heisst: den Gang des Dao beobachten und sich an das Richtige halten.

Das ist die alte „Praxis Pietatis“: sich im Gebet vor Gott stellen, in seiner Gegenwart zur Ruhe kommen, sich gehalten und angenommen wissen. Dann ansehen, was Sorgen macht, es ihm übergeben, das Richtige suchen, es angehen. Dann geschehen Hilfe und Fügung. „Seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen.“

Regenten-Weisheit für Private
„Die Geschichte der drei Reiche“ handelt zwar von Staaten und wie diese gedeihen können, aber es gilt auch für den einzelnen Menschen. So kann man den Rat des „schlafenden Drachen“ an den Reichseiniger und Erneuerer der Han-Dynastie auch zu einer Lebensregel machen:

Das Land King Tschou ist Schauplatz lohnender Kämpfe und Euch vom Himmel als Geschenk zugedacht…“ – Das bedeutet, in eine Individualethik übersetzt:
Es ist Geschenk und Aufgabe. – Wo ist meine Aufgabe? – Dort ist auch das Geschenk des Himmels. (Er hilft mir, indem er mir diese Aufgabe stellt).

„Der Statthalter dort ist ein Schwächling und ein Dummkopf in dem Sinn, dass er mit dem Land und der wackeren Bevölkerung nichts anzufangen weiss…“ – Das bedeutet: Land und Leute nutzen. Bei denen ansetzen, die sich dort schon eingefunden haben, aber ich denke nicht an sie.

„Wenn ihr dann Grenzen hütet im Norden, Süden, Osten, Westen, sei es durch Kampf oder Bündnisse, wenn ihr dann Euch selbst im Innern durch gute Verwaltung befestigt, dann könnt ihr getrost die weitern Wandlungen des Reichs abwarten, bis euch eines Tages das Volk ganz von selbst mit Fruchtkörben und Weinkrügen entgegen eilt. Dann wird das Haus Han in neuer Blüte auferstehen…“ – Das bedeutet: Die Grenzen hüten und die Mitte festmachen. Dann kommt es zur Blüte. –

Also: Täglich, jeden Augenblick, meine Grenzen hüten, meine Mitte festmachen und mit den Menschen, die sich finden lassen, meine Aufgabe erfüllen.

 

Aus Notizen 2003
Foto von Ivan Dražić von Pexels