Scham oder die Auswahl

Eine Beschämung in der Kindheit wirkt oft ein Leben lang fort, sie wird immer wiederholt. Hier löst sich das Geheimnis, warum immer wieder dieselben Menschen ausgewählt werden für solche Spiele.

Warum immer dieselben?
Scham kann missbraucht werden. Ein Mensch mit Beschämungs-Erlebnissen ist wie ein Tanzbär mit Nasenring, jeder kann seinen Strick hindurchziehen und ihn an Nase herumführen. Im täglichen Konkurrenzkampf, im normalen Kampf um Einfluss und Anerkennung, zeigt der verletzte Mensch eine Schwäche, wo der Kampf einhaken kann. Man kann in die Kerbe hauen und ihn so ins Abseits stellen oder willfährig machen.

„Na, Kevin, regnet es?“ wird er gefragt. „Du musst den Schirm aufmachen.“ Und schon steht er als Trottel da. Und es ist ganz ungreifbar. „Man wird doch mal einen Scherz machen dürfen.“ Schon hat er den Schwarzen Peter und alles ist schlimmer, als wenn er es einfach geschluckt hätte.

Der Ruf
Die Beschämung wirft den Menschen zurück, er fühlt sich beschmutzt. Und so lebt er auch. Und man kennt ihn so. Man traut ihm nicht viel zu, er ist eben ein Mensch, der wirklich seltsam reagiert. So entsteht eine Scham zweiten Grades. So wie Menschen mit Angst-Problemen sich vor ihren Angstattacken fürchten, so wird er durch seine Beschämungs-Erlebnisse neu beschämt. Es entsteht ein Teufelskreis. Es bestätigt sich wieder in aller Öffentlichkeit, dass er „seltsam“ ist, dass er nicht auftreten kann, dass er den Schwanz einzieht, wenn man ihm nur ein bisschen drauftritt.

Da sieht man es!
Solche Menschen können einer Sucht verfallen. Das Leben bleibt wegen der Blockierung unerfüllt, die Sehnsucht sucht einen Ersatz. Das ist nicht, was vom Leben gemeint war. Der Ersatz kann die Sehnsucht nicht stillen, der Konsum wird tendenziell unendlich und damit zur Sucht. Die Abhängigkeit ist dann psychisch schon gegeben, schon vor der stofflich bedingten Abhängigkeit.

Es ist zwanghaftes Verhalten. Es weckt Scham über den Verlust der Kontrolle. Sein Kopf wird weiter gebeugt. «Da sieht man es ja», kann man über solche Menschen sagen. Die schlechte Meinung über sie war nicht ohne Grund.

 

Aus Notizen 2003
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