Die Wende zu Gott in der Lebensmitte

Ob sich jemand in der Lebensmitte an Gott wendet, ist nicht eine Frage, ob er sich seinen Kinderglauben bewahrt hat, sondern eine Frage, ob seine Verzweiflung gross genug ist. Erst die Verzweiflung hebt auf diese Höhe, wo das Ganze des Lebens in eine Gestalt zusammen fliesst, z. B. indem jemand sein Leben fortwerfen will und dabei, in diesem Moment, die Erfahrung macht: „fortwerfen kann ich es ja immer noch, ich will es einsetzen“.

Für einen Moment in seinem Leben erreicht er eine Art von Schicksals-Autonomie, wo sein Leben in seiner Hand liegt. Nicht eine positive Autonomie, als ob er sein Leben gestalten könnte, wie er will, aber eine negative Autonomie, nach der er es als Ganzes zerstören kann. Daher der Lebensentwurf, der hier entsteht, das neue „Ja“ zum Leben: „fortwerfen kann ich es immer noch, ich will es einsetzen“. Die Praxis wird auf hunderttausend Hindernisse stossen, hier ging es nur ums „Ja“.

Die Verzweiflung rekurriert an das höchste Gericht, und wenn es dieses noch nicht kennt, muss es sich ein solches erschaffen, wie Hiob, der Gott herausfordert, damit er mit ihm rechten kann. Mit Gott, dem „Du“, in dem alles zusammengefasst ist. Dem Antlitz, in das er sich alles gegenüber setzt, und das doch ein menschliches Antlitz ist, damit es hören und antworten kann, damit ein Gespräch in Gang kommt (weil die schiere Dynamik der Verzweiflung diesen Ausdruck braucht).

Mit Gott, im Gegenüber dieses Du findet auch die letzte Verzweiflung endlich jenen Punkt, wo sie sich beruhigen kann, wo sie ihre Dynamik aus-agieren kann, wo sie die Gehalte ihrer Empörung vorbringen kann. Gibt es die Gerechtigkeit? Schicksals-Gerechtigkeit? Barmherzigkeit? Sind wir gehalten in dieser Welt? Haben wir einen Ursprung und ein Ziel? Oder gehen wir unter in den Zwecken dieser Welt?

Es ist die Frage der Erlösung, praktisch die Frage, ob ich mich und die Sorge um mich übergeben und Frieden finden kann. Ich selbst kann die Fragen meines Lebens nicht beantworten, die Bedeutung meines Daseins nicht bewähren, die Intuitionen von Recht und Gerechtigkeit, die ich immer schon brauche, um leben zu können, nicht bewahrheiten. Ich bin nicht das Subjekt der Autonomie, nicht das politische Kollektiv, nicht die Menschheit in ihrer phylogenetischen Entwicklung, dass ich die Bedingungen meines Lebens kontrollieren könnte. Der Vorsprung des Schon-Da und Für-Uns ist ungeheuer, der Vorsprung der Gnade nicht aufzuholen.

 

Beachten Sie zu diesem Thema das Streiflicht Im Bauch des Wals

Bild: Hiob von Jean Fouquet