Achteinhalb oder die Liebe

Die Liebe, das ist eine völlig neue, alte Sehweise. Ja, es ist nichts Kompliziertes, Unentdecktes es ist altbekannt und doch fern und scheinbar verloren. Die Liebe –  das ist das Neue, Uralte, Überraschende – ist die Rückkehr in den Geheimnisstand der Kindheit, die das Leben deshalb als „geheimnisvoll“ erlebt, weil sie in Erwartung lebt, weil sie der Zukunft, dem Begegnenden, etwas zutraut, weil sie Vertrauen hat und mehr als das: positive Erwartung!

Feier des Lebens
Immer, wenn ich mit mir zerstritten bin, muss ich an den Film „Achteinhalb“ denken. Ich habe ihn vor vielleicht 40 Jahren gesehen. Fellini erzählt von einem Regisseur, der seinen neunten Film dreht. Die Erwartungen und Ansprüche nach seinen bisherigen Erfolgen lähmen ihn. Quälend bleibt alles stehen und die andern drängen ihn. Endlich löst sich der Konflikt. Und der Film, den er dreht, wird zu einer Feier des Lebens.

Fellini findet zu seiner Welt, die sein Markenzeichen geworden ist und das Wort „fellinesk“ in die Sprache eingefügt hat. Wer Bedingungen formuliert, bevor er Menschen akzeptieren kann, findet diese Welt abseitig und grotesk. Aber die Reihenfolge ist umgekehrt. Die Bedingung lähmt. Wer annehmen kann, befreit. Und die Kreativität kommt in Gang. Die Schönheit zeigt sich. Was die Bedingung erzwingen wollte, es kommt als Geschenk.

Die Lebensfreude findet eine Lücke
Ich lag wieder mal im Streit mit mir selbst. Ich ging in die Stadt. Ich schaute einfach die Leute an und die Welt, „wie es ist“. Ohne Bewertung oder Erwartung, wie es sein sollte. Es war beruhigend. Die Schönheit fand wieder einen Ort. Die Lebensfreude eine Lücke, wo sie wieder hereinschlüpfen konnte. Es erinnert mich an die grosse Krise in Frankfurt und wie ich den Film sah „Achteinhalb“ – Fellinis Krise, die sich löst in einem Fest des Lebens. Die Menschen feiern, ihr Zusammensein und jeden einzelnen wie er ist.

Die andere Art, das ist die Liebe
Ich denke immer an dieser falschen Art herum, mir Anerkennung zu holen, die ich doch hinter mir gelassen habe und die ich hinter mir lassen will. Ich frage mich nie, wie die neue Art aussehen könnte. Ich sitze in der Cafeteria, nachdem ich einen ganzen Frühsommerabend am See verbrachte und in die Goldschneise der untergehenden Sonne blickte. Ich sehe die Menschen um mich her.

Die andere Art, das ist die Liebe, und das ist nicht irgendein Gefühl, ein Überschwang, ein spontanes die Welt-Umarmen-Wollen. Die Liebe, das ist eine völlig neue, alte Sehweise, ein sich Zurückversetzen-Lassen, ein erstauntes: „Was, das ist die Liebe? Aber…“ Ja, das habe ich schon gekannt, ja, es ist nichts Kompliziertes, Unentdecktes es ist altbekannt und doch fern und scheinbar verloren.

Es ist ein Sich-zurückversetzen-lassen in den Geheimnisstand der Kindheit. Die Liebe blickt nicht wie die Erwachsenen und wertet dann (du bist zwar, der du bist, aber wir sind alle Sünder, komm her, ich liebe dich). Die Liebe blickt wie die Kinder: Die Ehrfurcht und Achtung vor dem andern wird nicht nach einem Urteil und trotz einem Urteil zugebilligt, sie liegt schon vor jedem Urteil, vergisst zu urteilen, deshalb ist der Blick befangen, aber auch erwartungsfroh!

Das Neue und Uralte
Die Liebe – das ist das Neue, Uralte, Überraschende – ist die Rückkehr in den Geheimnisstand der Kindheit, die das Leben deshalb als „geheimnisvoll“ erlebt, weil sie in Erwartung lebt, weil sie der Zukunft, dem Begegnenden, etwas zutraut, weil sie Vertrauen hat und mehr als das: positive Erwartung!

Sie ist geheimnisvoll, weil sie nicht weiss. Das Gegenteil des Wissens ist nicht die Ignoranz, sondern das Geheimnis. Das Gegenteil des Geheimnisses ist nicht die Erkenntnis, sondern das Urteil. Der Blick der Angst, die Verletztheit des Sicherheits-Suchens und Abtastens: dieser Blick aus diesen verwundeten Augen schafft sich solche Urteile, die die Liebe verstellen.

Achteinhalb – ich ahne etwas, teils ist es da. So freue ich mich, bin ausgelassen über der lösenden, entspannenden Entdeckung. Teils ist es noch fern: noch nicht verfügbar und anwendbar wie ein Rezept. Aber das Leben erhält seine Festkleider zurück, ich lasse die Menschen Revue passieren, jeder in seiner Besonderheit und jeder ist gut so, wie er ist, eine fellineske Freude.“ …

 

Foto von Joy Anne Pura, Pexels
Aus Notizen 1986