Nach den Überflutungs-Berichten

Ich fahre vor der Arbeit eine halbe Stunde mit dem Fahrrad hinaus. Bei der Kaserne sehe ich die Rekruten stehen. Als ich vor etwa 50 Jahren hier einrückte, war es eine stabile Welt. Man konnte damit rechnen, bei der Entlassung wieder dieselbe Welt anzutreffen, die man beim Einrücken hinter sich lassen musste. So war die Rekrutenschule erträglich, es waren 17 Wochen „Pause“, bevor das „eigentliche Leben“ weiterging.

Da hatte sich alles verändert
Nur einmal, bei einem Wiederholungskurs, musste ich einrücken, als meine „Beziehung“ in einer Krise stand. Ich hielt es fast nicht aus, hier festzusitzen und nichts tun zu können. Ich musste es geschehen lassen. Und als ich zurückkam, war meine Welt in Brüche.

Daran musste ich denken, als ich heute die Rekruten sah. Das Wetter war unbeständig. In den vergangenen Tagen hatte es Überschwemmungen in Niederbayern und Baden-Württemberg gegeben. (Unsre Tochter lebt in München.) Das Klima ist destabilisiert, wir wissen nicht, wie es in der Zukunft wird.

Die Welt war fest
Bei experimentellen Versuchen sprach man früher von «ceteris-paribus-Bedingungen». Man wiederholte den Versuch und veränderte nur eine Variable, die anderen Einflussgrössen blieben gleich. So konnte man Ursachenbeziehungen aufspüren. Das übertrugen wir damals gefühlsmässig auch auf die Natur und die soziale Welt. Die schienen stabil. Wenn nur eine Grösse verändert wurde, brach nicht gleich die ganze Welt zusammen. Die Welt war „fest“, man konnte auf sie vertrauen. Dieses Vertrauen ist dahin. Die ceteris-paribus-Klausel gilt nicht mehr. Du musst beim Einrücken deine Welt hinter dir lassen und weisst nicht, ob und wie du sie noch vorfindest, wenn du zurückkehrst.

Wir leben in einer Zeit exponentieller Wachstums-Kurven, in der die Indices alle steil in den Himmel zeigen. Nur eine kleine Abweichung in der Zeit und die Ergebnisse zeigen gewaltige Abweichungen. In der sozialen (und offenbar auch in der natürlichen) Umwelt häufen sich die Quantitäten nicht unbeschadet um den Zusammenhang an. An einer Stelle schlägt die Quantität in Qualität um. So wie aus der Massen-Demokratie eine Ochlokratie wird und bei wachsenden Temperaturen die Zugbahnen der Hochs und Tiefs sich verlagern. So können sie riesige Mengen von Wasser über ein Gebiet abregnen, das früher in dieser Jahreszeit eher trocken war.

Lebensgefühl nach den Überflutungsberichten
Woran soll ich mich halten, wenn die Welt die vertrauten Konturen verliert? – Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so lebten wir gewissermassen noch in einem ptolemäischen Weltbild: die Erde war im Zentrum, die Sonne ging auf und unter. Und jeden Sommer kamen die Ferien, es wurde schön und heiss…

Die Theologie hat sich im Lauf der Geschichte an solche Weltbilder gebunden. Das Weltbild der biblischen Schriften ist aber die Apokalyptik. Da haben die Heilsgeschichte aus dem ersten Testament und die Zyklen der antiken Kosmogonie zusammengefunden. Jetzt bewegt sich die Geschichte in Schöpfungszyklen, den Äonen. Und Gerechtigkeit wächst auf den Feldern wie das Gras im Frühling. Das Reich des Friedens, wo Menschen in Gerechtigkeit zusammenwohnen, kommt wie eine neue Schöpfung, die Gott über der Welt aufgehen lässt.

Die Bibel zeigt keine starre Welt
Gegenüber der statischen Welt der griechischen Ontologie ist hier alles flüssig. Auch die Weltzeit bewegt sich, der ganze Rahmen, in den das Leben der Menschen gestellt ist. Noch ist der „Alte Äon“, wo die Mächte der Finsternis herrschen. Aber durch Tod und Auferstehung Christi ist der „Neue Äon“ schon angebrochen. Mit seiner Himmelfahrt hat er den Weg vollendet, er hat sich alle Bereiche der Welt unterworfen und sie Gott unter die Füsse gelegt, damit dieser alles in allem sei, so das Evangelium. Im göttlichen Geist ist er bei seiner Kirche. Er begleitet sie und beglaubigt ihre Botschaft. Als „lebendiges Wort“ ist er im Wort der Predigt, so dass dieses wirkt, was es aussagt und der glaubende Hörer an den ausgesagten Heilsgütern Anteil bekommt.

Die Ewigkeit wird aufgebrochen
Hier wird die scheinbar „ewige Zeit“ aufgebrochen und auf die Akte eines Heils-Dramas verteilt. Mit Christi Geburt beginnt eine neue Zeitrechnung. Mit seiner Auferstehung und Himmelfahrt beginnt die Zeit der Kirche. Diese dient dazu, das Evangelium allem Geschaffenen im ganzen Kosmos zu verkünden. Dann kommt er wieder, und es beginnt das Reich Gottes. Die Zeit wird aufgehoben.

In dieser Welt des Evangeliums ist alles aufgebrochen – nichts Irdisches ist mehr da, das Halt verspricht. Das entspricht dem Weltgefühl jener Zeitenwende. Mit der Verflüssigung vieler Randbedingungen unseres Daseins (solange sie stabil waren, konnten wir sie für „Randbedingungen“ halten) treten wir mehr und mehr auch in ein solches Daseins-Gefühl ein.

Rettung heisst nicht, dass alles bleibt
Die versprochene Rettung ist hier nicht an ein stabiles Bild geknüpft. Im Gegenteil, alles ist in Bewegung. Und der Leviathan, das Ungeheuer der Urzeit, welches das Urwasser aufwühlt, wird selbst verschlungen werden. Rom, die „Hure Babylon“, die eben noch Instrument war, um viele Völker in den Abgrund zu reissen, wird selber von der Dynamik verschlungen.

Verständlich, dass der Seher Johannes die Sterne vom Himmel fallen sah. Der Mond verdunkelte sein Licht und die Himmel wellten sich wie welkes Papier. Aber einer steht wie ein Leuchtturm im Sturm. Es ist der Herr der Geschichte, auch wenn er ohnmächtig ist wie ein Lamm. Das, worauf es letztlich ankommt, ob das Leben „gelingt“ oder nicht, das hat er im Gleichnis vom Jüngsten Gericht ausgesprochen: „Ihr habt mir zu trinken gegeben… und was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Was die Welt zusammenhält
Was die Welt zusammenhält, die soziale Welt, die persönliche Welt und die Welt im Grossen, es ist nichts, was man am Gewitterhimmel lesen muss. Das steht nicht in Feuerschrift an der Wand wie ein Menetekel. Es erscheint nicht auf der Wetterkarte, nicht mal, wenn diese die Wanderung der radioaktiven Tschernobyl-Wolke über Europa zeigt. Wir müssen es nicht von diesen Überschwemmungs-Berichten lernen, die jedes Jahr wieder neu die Sommerzeit begleiten. Wir wissen es. Es ist das, was die Gesellschaft aufbaut und zusammenhält. Es ist das, was dem einzelnen erlaubt, ein Glied in dieser Gemeinschaft zu werden und sein Dasein sinnhaft zu erleben. Es ist das ABC von ich und du und wir und ihr. „Ihr habt mir zu trinken gegeben… und was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Es ist jetzt zu erleben
Und es stimmt, wenn wir es tun, erleben wir es: In diesem Tun können wir ihn im Nächsten erkennen. Er fordert – aber er schenkt auch. Er begegnet als Bedürftiger – aber auch als Schenkender. Er fügt das Ich in einen Du-Zusammenhang, so entsteht überhaupt erst ein Subjekt, ein Mensch mit unverlierbarer Würde vor Gott. In diesem Moment, wo er sich gewonnen hat, kann er sich auch wieder vergessen. Er kann sich hingeben. Endlich. Hingeben können sich nur Menschen, die sie selber geworden sind. Und ist es so weit, erkennen sie sich im andern.

 

Foto von Genaro Servín, Pexels
Aus Notizen 2016