Steh auf, Gott!

Ein leidenschaftlicher Text steht heute in Mittelpunkt: Gott wird vermisst in der Welt. Viele fragen ihm nicht nach, verhalten sich, als ob es keinen Gott gäbe. „Steh auf, Gott!“ heisst es in dem Psalm, der heute im Gottesdienst gelesen wird. „Greif ein!“

Erinnere dich!
Es ist der zweite Sonntag in der Passionszeit, er heisst Sonntag „Reminiscere“: „Erinnere dich!“ Man erinnert Gott an seine Barmherzigkeit und Güte. Hat er nicht die Welt gut geschaffen, hat er uns nicht viel Gutes erwiesen? Und trotzdem ist die Welt voll Aufruhr. An allen Ecken und Enden werden Menschen verfolgt, die Welt scheint sich nur um Macht und Geld zu drehen.

Es war eine richtige Krise damals, in jenen Zeiten, von denen die Bibel berichtet. Wir können es nachfühlen, heute, wo in allen Nachrichten das Wort Krise erwähnt wird, wo viele Völker aufstehen und die Spannungen zunehmen auf der Welt. So heisst es im Gebet, das zu diesem Sonntag gehört: „Nach dir, Herr, verlangt mich. Ich hoffe auf dich; Du bist der Gott, der mir hilft. Erinnere dich an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die Du uns von Ewigkeit her geschenkt hast.“ (Ps 25)

Spott über den machtlosen Gott
Die Menschen fordern Gott auf, er soll aufstehen, sein Volk nicht vergessen. Aber er scheint nicht zu hören. Und sie klagen: „Warum bist du so weit weg, Herr? Warum verbirgst du dich vor uns? Gott stürzt die Übeltäter nicht.“ (Ps 10,1 und Hiob 24,12)

Und wer diesen Übeltätern Vorhaltungen macht, wer ihnen mit Gott kommt, den lachen sie aus. Sie spotten über Gott:

In ihrem Grössenwahn reden sie sich ein:
»Wie sollte Gott uns zur Rechenschaft ziehen?
Wo er doch gar nicht existiert!«
Weiter reicht ihr vermessenes Denken nicht.
Sie tun, was sie wollen, und alles gelingt.
Ob du sie verurteilst, berührt sie nicht;
du bist ja so fern dort oben! (Ps 10,4f)

Die Menschen beginnen an ihrem Glauben zu zweifeln.
Wie kann das sein, dass es den Schlechten gut geht und den Guten schlecht?
„Steh auf, Herr! Greif doch ein, Gott!“, bitten die Menschen. „Zerschlage die Macht der Unheilstifter, mach dem Verbrechen ein Ende!“ Sie rufen Gott als Richter an, er soll für Gerechtigkeit sorgen.

Gewalt
Das finden wir immer wieder im ersten Testament: Gott als Richter. Oft wird gesagt, im zweiten Testament sei das aufgehoben. Fordert uns Christus nicht auf, zu vergeben, nicht nur sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal? Sagt er nicht, wir sollen den Balken im eigenen Auge beseitigen, bevor wir den Splitter im Auge des Nächsten kritisieren? Ist er nicht einen Opfertod gestorben – auch für die Sünder? Sagt er in der Bergpredigt nicht: Wenn wir auf die rechte Backe geschlagen werden, sollen wir auch die linke hinhalten?

Das Neue Testament lehnt Gewalt ab. Aber das Recht wird nicht einfach aufgehoben. Auch im Neuen Testament ist Gott ein Garant für die Gerechtigkeit. Christus ist wohl gestorben für unsere Schuld. (Wir feiern die Vergebung jedes Mal im Abendmahl). Aber Christus selber verweist auf das Endgericht. Er beschreibt, wie der Menschensohn kommen wird in Herrlichkeit, alle Völker erscheinen vor ihm und er hält Gericht. (Mt 25)

Recht
Die Rede vom Gericht ist keine bedrückende Botschaft. Sie ist befreiend! Es geht nicht darum, Angst zu verbreiten. So wurde das früher vielleicht missbraucht, bei der Erziehung der Kinder, dass man ihnen Angst machte: „Gott sieht alles!“ Es geht im Gegenteil um Befreiung: Es gibt Gerechtigkeit!

Auch der Geringste findet einen Richter, der ihn hört. Auch der Ärmste findet Recht. Das Lebens-Recht der Kleinsten wird geachtet, auch wenn sie sich nicht wehren können! Das Leben ist letztlich gerecht eingerichtet, auch wenn es immer wieder anders aussieht. Die Schicksale sind gerecht verteilt, auch wenn wir es vielleicht nicht sehen und erleben. Darum spricht die Bibel von einem „Jüngsten Gericht“, nach der Zeit.

Unsere Intuition ist wahr: Es gibt Gerechtigkeit! Wir müssen uns nicht betrogen fühlen, wenn wir dem rechten Weg folgen. Das ist die Antwort von diesem Sonntag in der Passionszeit. Es gibt Recht und Gerechtigkeit. In dieser Welt läuft es oft anders. Aber Gott wacht darüber.

Schicksals-Gerechtigkeit?
Aus der Seelsorge weiss ich: Das ist eine Intuition, die die Menschen tief in sich tragen: dass es so etwas gibt wie eine Schicksals-Gerechtigkeit. Viele Menschen müssen ein schweres Schicksal tragen. „Das letzte Jahr war ganz schlimm“, hat mir eine Frau erzählt. „Erst habe ich meinen Mann verloren, dann meine Schwester. Ein Schwiegersohn ist auch krank.“

Wir tragen das in uns: die Forderung, dass es gerecht zu und her gehen soll. Sonst würden wir am Leben verzweifeln. Und der Glaube gibt Antwort: Ja, Gott ist da. Er ist bei jedem seiner Geschöpfe und wahrt sein Lebensrecht.

„Steh auf, Herr! Greif doch ein!“ – Das ist der Ruf, der in Psalm 10 fast verzweifelt erhoben wird. Und in Psalm 12 gibt Gott Antwort: „Ja, sagt der Herr, jetzt greife ich ein! Denn die Armen werden unterdrückt und die Hilflosen stöhnen. Ich bringe den Misshandelten Befreiung.“ (Ps 12,6)

 

Aus einem Gottesdienst zum Sonntag Reminiscere 2. März 2012
Foto von Rabia von Pexels