Der Pfarrer und der Doppelagent

Ich sah gestern im Fernsehen einen Film von 1962 – ich war damals 13 Jahre alt. Ich erinnere mich an diesen und andere solche Filme. Sie standen noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges und handeln von Doppelagenten. Das war damals neu und aufregend:

Ein Geheimagent, der sich verstellt und hinter der Front für sein Land arbeitet. Da muss er doppeldenken und schauen, dass er sich nicht verrät. Etwas vortäuschen, aber das andere festhalten. Auch im Traum muss er auf der Hut sein, dass ihm nicht ein Wort entwischt. Es geht an die Grenze des Kontrollierbaren. Es geht an die Grenze der Identität: was man ist und was man vortäuschen kann.

Beim Doppelagenten ist es noch aufregender. Er ist hinter der Front, beim Feind, er tut, als ob er wie der Feind denkt, handelt aber für das eigene Land. So macht es der Agent. Jetzt wird das aber noch eine Schraubenwindung weitergedreht: Er denkt scheinbar wir der Feind, ist aber für das Land. Insofern ist er Agent. Nun denkt der wie das Land, indem er wie der Feind denkt, aber das ist nur Täuschung.

Spiegel im Spiegel
Und es ist noch komplizierter. Er liefert beiden Seiten etwas, muss sich für beide Seiten nützlich machen. Er denkt wie der Feind, wie das Land, wie der Feind…

Es ist mir zu hoch. Das hat mich schon als Kind fasziniert. Es ist wie das metaphysische Gruseln, das den Mann im Coiffeur-Stuhl im Lied von Mani Matter erfasst, als er sich im Spiegel im Spiegel im Spiegel … erblickt und die Reihe von Spiegelungen nicht mehr aufhören will.

Einfache Aussagen
Heute wirkt das alles naiv und kindlich. Heute ist alles relativiert und pluralisiert. Heute gibt es tausend Hinsichten und Absichten. Man kann nicht mehr sagen, wo Freund oder Feind ist. Freund und Feind, das ist überall. Ein Wahrheitsanspruch mit einfachen, selbst-identischen Aussagen, scheint ein Relikt aus der Zeit vor dem Krieg. Dann verwirrt es sich, und das zeigt sich noch in den Dekors, in den Autos, die sie in den alten Filmen fuhren, und in der ganzen Atmosphäre dieser Filme mit dem leuchtenden, künstlichen Technicolor.

(Und wo steht ein Pfarrer? frage ich mich. Steht er nicht auch zwischen zwei Lagern? Er will die Kirche in der Umwelt vertreten. Er nimmt den Wahrheitsanspruch der Umwelt auf, will aber die Botschaft nicht verraten. Doch soll er sie an eine Umwelt vermitteln, die sie ablehnt. Er ist wie abgesetzt hinter der Front und sucht seinen Weg. – Was tut ein Doppelagent, wenn er pensioniert wird? Kann er sein Denken noch entwirren und zu einem einfachen, selbstidentischen Glauben zurückkehren?)

 

Foto: Thiago Matos, Pexels
Aus Notizen 2013