Wer bin ich?

Ich sitze beim Coiffeur auf dem Stuhl. Die Brille habe ich abgelegt und blinzle kurzsichtig mein Konterfei im Spiegel an: eher ein dunkler Schatten als ich selbst. Wie ich unbeschäftigt so da sitze, gehen meine Gedanken voraus: Ich muss einen Beitrag über mich schreiben für die Rubrik „Persönlich“. Das Lied von Mani Matter fällt mir ein: „Bim Coiffeur bin i gsässe vor em Spiegel, luege dri“.

Er sieht sich von hinten und vorn gespiegelt, hundert Köpfe, die sich im Unendlichen verlieren. „Es metaphysisch‘s Grusle het mi packt im Coiffeur-Gstühl“. Er reisst die Serviette ab und macht in Zukunft einen Bogen um Coiffeur-Salons. Deshalb – gibt er uns zu verstehen – trägt er seine Haare so lang.

Ich sitze beim Coiffeur und blinzle kurzsichtig in mein Spiegelbild. Was wäre denn das für eine Person, die in der Rubrik „Persönlich“ von sich berichten soll? Ist es das Bild, das meine Familie und meine Freunde von mir haben? Oder kennen die mich besser, die weniger gnädig von mir denken?

Das Bild
In der Ost-Kirche spielt das Bild-Denken eine grosse Rolle. Die West-Kirche ist eher von der Moral geprägt. Wir wollen die Kluft zwischen der Welt, wie sie ist und wie sie sein soll, durch Anstrengung überbrücken.

Wir übernehmen immer gleich Verantwortung, auch wo wir überfordert sind. Die Ost-Kirche denkt die Spannung zwischen Heil und Unheil viel mehr im Begriff von Urbild und Abbild. Die Wahrheit ist der Welt ein-gestiftet, aber sie kommt nicht immer deutlich zum Ausdruck. Es ist ein Stufengang, durch den wir uns immer mehr unserm eigentlichen Bild anverwandeln.

„Gott sprach: Lasst uns Menschen machen nach unserm Bild, uns ähnlich“ (1. Mose 1,26). Die Ost-Kirche versteht diesen Satz so, dass Gott uns sein „Bild“ eingestiftet hat (eikon), aber wir spiegeln es in unserm Leben nur undeutlich wider. Es bedarf der ganzen Heilsgeschichte, bis wir ihm „ähnlich“ werden (homoiosis). Der Akzent liegt hier weniger auf unserem Tun als auf Gottes Handeln. Es wird weniger unsere ethische Verantwortung betont als die Erlösungstat Christi, der Gottes Bild in uns erneuert hat. Von dem Jesus-Bild her, das wir pflegen, ist das nur schwer verständlich. Hier jedoch ist Christus der Name für jene Wirklichkeit, die die ganze Welt trägt und erneuert.

So schreibt Paulus: Wir sehen die Welt heute nur wie durch einen undeutlichen Spiegel, aber in Christus spiegeln wir die Herrlichkeit Gottes wider. Durch Christus werden wir in sein „Bild“ verwandelt (1. Kor 13,12 und 2. Kor 3,18).

Wer bin ich? In Mani Matters Lied kriegt der Betrachter ein „metaphysisches Gruseln“, weil er sich im Nichts verschwinden sieht. Die christliche Tradition sieht im Heiland unser aller Bild, das geschändet und wiederhergestellt wird. Alles Leid findet sich dort wieder, aber auch das Bild wie Gott uns gemeint hat.

(Aus dem Buch „Geborenwerden, wachsen und reifen, Notizen 1992 – 1998.
„Persönlich“ war eine Kolumne, wo kirchliche Mitarbeiter sich selber vorstellten.
Weitere Beiträge aus dieser Zeit finden Sie über den Suchbegriff „wachsen“.)