Die Seele – eine Liebesgeschichte

Landläufig denkt man, Seele ist das, was übrig bleibt, wenn ein Mensch gestorben ist. Aber am meisten wird von der Seele nicht dort gesprochen, wo es um den Tod, sondern wo es um das Leben geht. –
Die Rede von der Seele und die Rede von der Liebe, das gehört zusammen. Der Weg der Seele – das ist eine Liebesgeschichte. Sie sagt, wer der Mensch ist, wo er herkommt und wo er hingeht, was seine Mitte ausmacht und sein Schicksal.

 

Seele – das Wort weckt viele Vorstellungen.

Zuerst bedeutet es nur etwas Inneres. Man kennt den Ausdruck auch im Handwerk, z.B. bei der Seil-Herstellung. Seele – so heisst der Faden, den man braucht, um einen Strick zu drehen. Es ist der Faden in der Mitte, um den die kleinen Seile gedreht werden, um einen grösseres Strick herzustellen.

Auch die Mitte einer Wendeltreppe heisst Seele. So wie sich ein Seil um eine Mitte dreht, schraubt sich eine Wendeltreppe um eine Achse in die Höhe. Auch dieser Achse sagt man „Seele“. Aber während bei einem Seil wenigstens noch ein Faden in der Mitte ist, ist bei einer Wendeltreppe gar nichts mehr. Es ist nur Luft, eine gedachte Mitte, um die sich die Treppe in die Höhe schraubt.

Das sind Beispiele aus dem Handwerk, aus der Architektur. Aber mit diesen Beispielen ist die Spannweite schon angegeben, die auch die Diskussion um die menschliche Seele beherrscht:
Für die einen ist die Seele ein innerster Kern, um den sich alles dreht, wie beim Seil.
Für die andern ist es ein leeres Nichts, wie bei der Wendeltreppe. Man redet zwar immer darum herum, aber es hat keine Wirklichkeit.

Heute findet man beide Haltungen nebeneinander.
Die Wissenschaft hat die Seele verabschiedet. Aber im Bewusstsein der Menschen lebt sie weiter. Der Internet-Suchdienst google braucht nur 1/5 Sekunde und findet über 25 Millionen Eintragungen zum Thema Seele. Die Seele ist totgesagt, aber sie beschäftigt die Menschen nach wie vor.

Landläufig denkt man, Seele ist das, was übrig bleibt, wenn ein Mensch gestorben ist. Der Streit um die Seele drehe sich um die Frage, ob der Mensch einen unsterblichen Kern besitze, oder ob mit dem Tod „alles aus“ sei.
Aber am meisten wird von der Seele nicht dort gesprochen, wo es um den Tod geht, sondern dort, wo es um das Leben geht. Und wer die Gedichte liest, die heute verfasst werden (nicht die in den Büchern, sondern die im Internet, wo die Jugendlichen schreiben), wer die Lieder hört, die gesungen werden, der sieht, dass nirgendwo so viel von der Seele geredet wird, wie in der Liebe.

Die Liebe ist eine starke Erfahrung, die einen Menschen aufwühlt „bis in die innerste Seele hinein“. Wer verliebt ist, hat das Gefühl, ein neues Leben habe angefangen. Er sei ein neuer Mensch. Er weiss kaum mehr, was vorher war. Was gemeint ist mit dem Leben – jetzt begreift er es.
Zwei Verliebte haben oft das Gefühl, als ob sie sich schon lang gekannt hätten. Sie trugen das Bild des andern schon in sich. Und es war wie ein Wieder-Erkennen, als sie sich trafen. Es war wie die Erfüllung einer tiefen Sehnsucht, etwas ist an ein Ziel gekommen.

So redet die Liebe. In ihren Ahnungen geht es darum, dass etwas ans Ziel kommt, was von Ursprung an schon unterwegs war. Ein langer Weg wird da abgeschritten. Und es hat zutiefst damit zu tun, was der Mensch ist, was er sich erhofft, wie er sich selber versteht.

Davon redet auch die Seele. Die Rede von der Seele und die Rede von der Liebe, das gehört zusammen. In diesen Bildern erkennt sich der Mensch als jemanden, der in Beziehung steht zu einem DU. In dieser Beziehung wird er, wer er ist. Er findet zu sich selbst und zum andern. Alles erfüllt sich, was als Sehnsucht in ihm angelegt ist.

Der Weg der Seele, das ist eine Liebesgeschichte. Sie sagt, wer der Mensch ist, wo er herkommt und wo er hingeht, was seine Mitte ausmacht und sein Schicksal.
Das „Du“, mit dem wir in Beziehung stehen, erfahren wir zuerst an einem Menschen. Aber dahinter steht Gott, auch mit ihm verbindet uns eine Beziehung, eine Liebesbeziehung: Daher das „Du“ im Gebet, wenn wir uns an Gott wenden. Daher das Vertrauen, dass er uns kennt und zu uns steht. Vor dort die Vertraulichkeit und Intimität, wenn wir mit ihm reden.

Darum redet auch die Bibel immer wieder in dieser Du-Form von Gott.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und alles was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Lobe den Herrn, meine Seele. (Ps 103)

Die Sprache
„Seele“, „Seel-Sorge“, „Seelen-Frieden“, „Seelen-Heil“ – viele Vorstellungen verbinden sich mit dem Begriff Seele. Es ist etwas, zu dem man Sorge tragen soll. Es soll Frieden finden. Es ist auf einem Weg, der zu einem umfassenden Heil finden soll.

Wenn Sie mit einem Arzt reden, wird Ihnen dieser nicht von Seele reden, er misst Ihnen den Blutdruck, er lässt das Blut untersuchen. Das sind Dinge, die man messen kann. Auf dieser naturwissenschaftlichen Grundlage hat die Medizin riesige Fortschritte erzielt.

Andererseits gibt es Menschen, die diese Apparate-Medizin als „seelenlos“ empfinden. Und viele Patienten, die heute einen Arzt aufsuchen, wollen daneben auch noch eine alternative Behandlung. So gibt es ein grosses Angebot von Alternativ-Medizinen.

Das spüren auch die Spitäler. Sie müssen sich heute immer mehr am Markt ausrichten und an den Bedürfnissen der Patienten. Darum bieten sie einen ganzheitlichen Ansatz an. Nicht nur der Körper soll bei ihnen behandelt werden, nicht nur der Blinddarm, sondern auch der Mensch. Dazu gehören auch die seelischen Bedürfnisse.

So sind es dieselben Mediziner, die in der Forschung den Seelenbegriff ablehnen und im Marketing die Seele wieder an Bord holen. Ein wissenschaftlicher Status wird dem Konzept Seele nicht mehr zugebilligt. Es geht um Gemütswerte. Das Wort Seele steht für Gefühle, für Wertschätzung, es steht für den Personencharakter des Menschen. Er soll respektiert werden und nicht auf einen Körper reduziert.

Zwei Sprachen
Diese doppelte Art zu reden zeigt: Als wissenschaftliches Konzept ist die Seele tot, aber es beschäftigt die Menschen nach wie vor. Darum kommt über die Marktnachfrage wieder herein, was vorher durch die Wissenschaft verabschiedet wurde. Darum die vielen „Alternativ“-Ansätze in der Medizin.

Aber lassen wir das Spital jetzt hinter uns. Die Frage nach der Seele erhebt sich nicht erst an der Grenze, vor dem Tod, sondern mitten im Leben. Im christlichen Glauben ist Gott der Erlöser, aber auch der Schöpfer: Er ist erfahrbar im Glück, in der Mitte des Lebens, nicht nur am Rand. Er ist wie eine Quelle auf dem Weg, ein Ruhepunkt nach der Anstrengung, ein Ort, wo wir neue Kraft schöpfen können.

In ihm erhält die Welt ein Gesicht, es schaut uns an. Wir können zu ihm reden, und Er gibt Antwort. Durch ihn treten wir in Beziehung. Durch ihn tritt die Liebe in die Welt. Und alles, was uns beschäftigt, ordnet sich auf einem Weg, den wir gehen können, und Er ist unser Begleiter.

Ein Liebeslied
Die Seele verstehen wir, wenn wir die Sprache der Liebe reden. Das erste Testament enthält eine ganze Sammlung von Liebesliedern. Die Kirche hat sie in die Bibel eingefügt, weil sie die Geschichte erzählen von Gott und Mensch. Es ist eine Liebesgeschichte.

„Auf meinem Lager, nächtlicher Weile, suchte ich ihn, den meine Seele liebt, ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht. So will ich mich aufmachen, will ihn suchen, den meine Seele liebt.“ (Hohelied 3,1)

So fängt eines dieser Lieder an. Lassen wir uns darauf ein. Auf die Stimmung, auf die Geschichte.

Es ist Nacht. Eine Frau erwacht. Sie sucht ihren Geliebten. Er ist nicht da.

Das ist der Anfang einer Geschichte. Der Weg des Menschen ist hier abgebildet, im Bild einer Liebesbeziehung.

Der Mensch vermisst etwas, er wacht auf in der Nacht. Und selbst wenn er Gott noch nicht kennen gelernt hat – in seinem Innern hat er das Bild eines Gegenübers. Ohne ihn fehlt ihm was im Leben, mit ihm ist es wie Erfüllung.

Du und ich
Er macht sich auf, ihn zu suchen. So wird der Lebensweg zu einem Suchweg. Und alles, was uns im Leben und Schicksal begegnet, erscheint unter diesem Bild der Liebe: als Sehnsucht, als Vermissen, als Suchen, als Finden. Und immer als tiefe innere Gewissheit, dass da ein „Du“ ist, das zu unserem Leben gehört, ein Du, an dem unser Leben gesund und ganz werden kann.

„Auf meinem Lager, nächtlicher Weile, suchte ich ihn, den meine Seele liebt, ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht. So will ich mich aufmachen, will ihn suchen, den meine Seele liebt.“

Die Seele geht aus, sie fragt und sucht. Ich will nicht das ganze Gedicht zitieren. Es steht für den ganzen Lebensweg. Hier könnten wir alles eintragen, was wir erlebt haben an Suchen, Vermissen und Finden.

Dann heisst es:

„Horch, mein Geliebter! Sieh, da kommt er,

Springt daher über die Berge.

Hüpft daher über die Hügel.

Mein Geliebter gleicht der Gazelle oder dem jungen Hirsch.

Siehe, schon steht er hinter unserer Mauer,

Er schaut durchs Fenster,

Er guckt durchs Gitter.

Mein Geliebter hebt an und spricht zu mir:

Auf meine Freundin, meine Schöne, komm!

Sieh nur, der Winter ist dahin, vorüber ist der Regen.

Die Blumen erscheinen im Lande,

Die Zeit des Singens ist da.“ (Hohelied 2,8f)

Der, den wir suchen, kommt uns entgegen. Während wir noch auf dem Weg sind, hat er uns schon gefunden. Während er uns noch verborgen ist, wie durch eine dicke Mauer, die Mauer unserer Leiden, sieht er uns schon, und schaut mit Augen der Liebe auf uns.

Ähnlich formuliert es ein modernes Liebesgedicht:

„Ich trage Dein Herz in mir, es schlägt in meinem Herzen.

Ich bin nie ohne Dich.

Wo immer ich gehe – da gehst Du mit,

Was immer ich tue – Du tust es, meine Liebe.

 Ich fürchte kein Schicksal, denn Du bist mein Geschick,

Ich begehre keine Welt, denn wunderbar bist Du, meine Welt,

Du bist es, was der Mond am Himmel sagen will,

Und was die Sonne singt, Du bist es.

Hier ist das tiefste Geheimnis, das niemand kennt.

Hier ist die Wurzel aller Wurzeln, die Knospe aller Knospen.

Hier ist der Himmel über allen Himmeln,

Ein Baum, der Leben heisst.

Er wächst höher als die Seele hoffen kann,

Er wächst tiefer als der Verstand begreift.

Hier ist das Wunder, das die Sterne über den Himmel spannt.

Ich trage Dein Herz in mir, es schlägt in meinem Herzen.“

 (Nach einem englischen Gedicht von E. E. Cummings)

 

Aus einem Gottesdienst, 8. Oktober 2006