Die Alternative

Neben dem üblichen Kalenderjahr gibt es auch ein «Kirchenjahr». Es beginnt mit dem Advent. Die Zeit wird hier anders aufgezogen, die Wirklichkeit anders aufgefächert, es bringt anderes zur Sprache als das bürgerliche Jahr.

Es erinnert an eine vergessene Kommode, die man auf dem Dachboden gefunden hat. Eines Tages zieht man die Schublade auf und findet Dinge, von denen man nichts wusste oder die man schon vergessen hat, zauberhafte Dinge, anstössige Dinge… Sie stammen von den Eltern, als sie jung waren (so kannte man sie nicht) oder aus der eigenen Kindheit, von den Vorfahren, von denen man gar nichts wusste.

Der Aussenseiter
Sie erinnern an einen Menschen, einen Namen, den man aus der Haupt-Schublade verbannt hat und auf den Estrich gestellt. Zu anstössig ist er, man schämt sich. Ein Widerständler und Eigenbrötler. Ein Original-Genie und Grenzgänger, in einer Phase des Erfolgs aber auch emporgeschwemmt zu höchsten Hoffnungen, die das Volk auf ihn richtete. Dann aber fallengelassen, zu Fall gebracht, hingerichtet, am Rand verscharrt, in ungeweihter Erde. Als Warnung für alle Unzufriedenen, es nicht auf demselben Weg zu versuchen.

Erinnerung
Aber die Hoffnung der Menschen konnte sich mit seinem Tod nicht beruhigen. Wenn er gestorben wäre, einfach so, dann wäre auch die Hoffnung gestorben. Er lebt, sagen sie. Und noch Jahrtausende später kommen Menschen zusammen, die nach dem Leben fragen, wie es richtig gelebt wird. Und sie feiern die Erinnerung an ihn und an sein Vorbild. Sie wollen in seinen Schritten gehen. Und sie erkennen so einen Weg, der ans Ziel führt.

Immer wieder findet sich einer, ein junger Mensch, der den Dachboden durchforstet und verbotene Schubladen aufzieht. Und er ist fasziniert. Er beginnt zu lesen, kann nicht aufhören, setzt sich nieder, liest und liest. Hier findet er etwas, das er nicht kannte. Eine andere Art zu denken, eine andere Art zu leben – und doch ist es, als ob er das immer schon gekannt hätte. Denn so hatte er eigentlich selber gedacht, gefühlt, empfunden. Er hat es nur nicht für möglich gehalten. Die Grosskultur hat es nicht in Erinnerung behalten, die Gesellschaft hat sich dieser Sache entledigt. Es gab keine Alternative mehr zu dem, was ohnehin schon war. Und wer anders dachte, wurde in die Ecke gedrängt. Galt als Spinner, Träumer, Störenfried.

 

Aus Notizen 2015
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