«Allen, die mich jetzt hören…»

Krisenzeiten erfinden ihre eigenen Formen des Redens. Besonders eindrücklich, wenn eine Rede stockt, wenn ein Erzähler sich umwendet und die Hörerenden direkt anspricht. Das Publikum verwandelt sich zu Beteiligten. Sie müssen die Distanz aufgeben und Stellung nehmen. Berühmt ist die Friedensrede Chaplins am Ende seines Films «The Great Dictator». Auch die Bibel kennt Beispiele.

Sich vom Erzählten nicht erschrecken lassen
Vor einiger Zeit habe ich wieder mal mit dem Finger in die Bibel gestochen und traf auf 2. Makkabäer 6, 12. «Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen.» So heisst es in einem kurzen Kapitel, das die Erzählung unterbricht. Hintergrund sind die Leiden des Volkes unter der Fremdherrschaft. Gott habe seine Barmherzigkeit nicht vergessen, auch wenn die Erfahrung eine dunkle Welt zeige. «Er lässt sein Volk nie im Stich. Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen. Nun aber wollen wir rasch wieder auf die Geschichte kommen.»

Die Makkabäer-Bücher, die nicht in allen Bibelausgaben enthalten sind, handeln von der griechischen Fremdherrschaft, nachdem Alexander der Grosse viele Gebiete bis nach Indien erobert hatte, sein Reich aber unter den Nachfolgern in Teilreich zerfiel. Das Volk Israel wehrte sich gegen die Hellenisierung. Es kam zu einem Aufstand, Israel fand für etwa hundert Jahre zu neuer Eigenstaatlichkeit (167 bis 63 v. Chr.).

Eindrücklich ist die Schilderung, wie der Tempel geschändet wurde. Es sollte das Volk ins Mark treffen.

«Da kam grosse Trauer über das ganze Land Israel. Die Vornehmen und Alten stöhnten; die Mädchen und jungen Männer verloren ihre Kraft und die Schönheit der Frauen verfiel. Jeder Bräutigam stimmte die Totenklage an, die Braut sass trauernd in ihrem Gemach. Das Land zitterte um seine Bewohner. Das ganze Haus Jakob war mit Schande bedeckt.» (1. Makk.1, 25ff)

Der Sinn des erzählten Leidens
Es war eine Krise, die Schändung des Tempels sollte das Volk im Innersten treffen. (Blossstellung und Beschämung werden auch heute als Waffe eingesetzt.) Der Autor konnte kaum an sich halten, so scheint es dem heutigen Leser. Er konnte nicht weiterfahren im Berichts-Ton, musste deutlich machen, was ihn quälte und den Lesern weitergeben, was er gefunden hatte:

«Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen, sondern zu bedenken, dass unserm Volk Strafen nicht zum Verderben, sondern zur Erziehung widerfahren. (…) Und wenn er uns durch ein Unglück erzieht, lässt er doch sein Volk nie im Stich. Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen.»

Eine Rede fürs Publikum
1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, als noch nicht absehbar war, dass NS-Deutschland besiegt werden würde, veröffentlichte Charlie Chaplin den Film «Der grosse Diktator». Er parodierte den Führer durch einen jüdischen Friseur, der ihm ähnlich sah und durch eine Verwechslung an seine Stelle kam. Jetzt, in der Position eines Machthabers, nutzte er die Möglichkeit. Chaplin durchbricht die Filmhandlung und lässt den Diktator alias Friseur eine Friedensrede halten, die nicht nur zur Filmhandlung gehört, sondern die auf die reale Welt ausgreifen sollte. Es ist eine Rede auch für heute:

„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weissen.

Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher. Auf dieser Welt ist Patz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen. Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein. Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.

Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten und sie denken auch für uns.

Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen, und unser Wissen kalt und hart. Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig. Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert.

Aeroplane und Radio haben uns einander näher gebracht. Diese Erfindungen haben eine Brücke geschlagen, von Mensch zu Mensch. Die erfordern eine allumfassende Brüderlichkeit, damit wir alle Eins werden. Millionen Menschen auf der Welt können im Augenblick meine Stimme hören. Millionen verzweifelter Menschen, Opfer eines Systems, das es sich zur Aufgabe gemacht hat Unschuldige zu quälen, und in Ketten zu legen.

Allen denen die mich jetzt hören rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid das über uns gekommen ist, ist vergänglich. Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füssen treten, werden nicht immer da sein. Ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen, und auch ihr Hass. Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu gross.“

Aus dem off gesprochen
Bei Chaplin und in den Makkabäer-Büchern findet sich dasselbe Motiv: die Sprecher wechseln in den Off-Ton, weil das Leid nicht mehr zu ertragen ist, es braucht eine Zusage: «Allen denen die mich jetzt hören rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen!», sagt Chaplin. «Ich möchte aber hier diejenigen, die dieses Buch in die Hände bekommen, ermahnen, sich durch diesen Jammer nicht entmutigen zu lassen. (…) Dies habe ich als Ermahnung hier sagen wollen. Nun aber wollen wir rasch wieder auf die Geschichte kommen.» So sagt der biblische Autor.

 

Die Chaplin-Rede wird zitiert nach: https://www.rollingstone.de/grosse-dikator-charlie-chaplin-rede-video-2045255/von Rolling Stone 30.12.2021

Foto von Budgeron Bach, Pexels