Der leere Himmel

Ich wusste gar nicht – ich habe mich völlig davon entwöhnt – dass diese Welt noch so viel Schönes hat. Am Morgen war ich schon in der Dämmerung draussen. Eine dünne Mondsichel hing in den Bäumen. Es war zauberhaft. Abends, als ich wieder in der Dämmerung unterwegs war, stand der Jupiter hell am Himmel. Ich wollte ihn nicht aus dem Blick verlieren und schlug die Strasse zur Hauptstadt ein.

Sie schlägt eine Schneise durch die Häuser, öffnet einen Blick in den Himmel. Dieser ist durch die Häuser, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind, zugemauert worden. Nur die Ausfallstrassen öffnen noch einen Blick.

Der offene Himmel
Das ist etwas, was ich früher noch kannte: einen offenen Himmel, der Anblick des Sternenhimmels. In der Lehre hatte ich ein Fernrohr gebaut. Ich konnte es hinter dem Haus aufstellen und in den Himmel schauen. Es ging nicht lang, haben Licht und hohe Häuser den Blick verstellt. Das ist das grösste Wunder, hatte Kant gesagt, das moralische Gesetz in mir und der bestirnten Himmel über mir.

Der äussere und der innere Himmel hängen zusammen. Das geht zurück bis auf die Weisheitslehren das Alten Orients und ihre Intuition, dass ein und derselbe «Logos» die ganze Welt durchwalte. Eine «Logik» könnte man heute sagen, da man nicht mehr religiös denkt und das philosophische Pendent, die Metaphysik, verabschiedet ist. Es ist eine Intuition von einer Regel, einer «Richtigkeit», die alles durchwaltet, und wer sich daran hält, dem gelingt das Leben. Er gleicht einem Steuermann in der Nacht, der sich nach den Sternen richtet und so den Weg findet, den er gar nicht sieht, obwohl er nichts anderes von ihm weiss als diese Richtung.

Wahr, gut, schön?
Diese antike Weisheit, die «Vernunft», die in Natur und Kultur herrscht, das hat in den Jahrtausenden seit dem Alten Orient viele Verwandlungen durchgemacht. Heute ist sie bloss relativ geworden, ihre Ahnungen von einer Wahrheit, die alles durchwaltet, sind beschränkt auf Bewusstseins-Prozesse, auf Phänomene der Sprache, auf Festlegungen der Kultur. Das Gegenteil ist genau so wahr. Der Geltunganspruch auf Wahrheit in der Erkenntnis, auf Richtigkeit im ethisch-politischen Verhalten, auf Schönheit der Wahrnehmung, der mit der alten Logos-Vorstellung verbunden war, ist überhaupt aufgehoben oder wird skeptizistisch bestritten. (So endet – möchte man fast sagen, wenn man dem Nörgler in sich nachgeben wollte – die abendländische Kultur, die ein Gespräch war über wahr, gut und schön, in einer Beliebigkeit, die keine Regel mehr über sich kennt.)

Die leere Erde
In den Nachrichten erzählen sie von den Streiks in Frankreich. Es gehe nicht nur um die Erhöhung des Pensionsalters, es sei ein Protest gegen die zunehmende Entleerung Frankreichs an der Peripherie. Und tatsächlich, ein Ausflug nach Frankreich vor ein paar Jahren erinnert mich an den leergefegten Himmel. Noch in den 90er Jahren konnten wir mit den Kindern ungeplant über die Grenze fahren. Bald fand man ein Städtchen, man hielt an und fand einen Gasthof, wo man willkommen war. Einige Jahre später war alles leer, keine Restaurants, keine Geschäfte. Als wir vor einigen Jahren von Bekannten in ein Häuschen eingeladen waren, musste man mit dem Auto ins Nachbardorf fahren, um Brot und Milch zu kaufen. Vor der einzigen Bäckerei gab es lange Warteschlangen.

So ist der Himmel heute zugemauert und auch Gott, der nach einem Sprichwort in Frankreich in Saus und Braus lebt, scheint dort ein hartes Brot zu essen. Es ist nicht nur die Moral, die das verschuldet, weil alle härter und gieriger geworden seien. Es läuft selbsttätig, als ob ein Automat abschnurrte. Der Boden wird immer teurer, er vertreibt die Einwohner und Geschäftsinhaber, die die Miete nicht mehr zahlen können. So werden Immobilienbesitzer immer reicher. Und es geht uns wie König Midas, dem alles Gold wurde, was er anfasste und in Gefahr stand, zu verhungern.

Das Wunder
Das grösste Wunder ist der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Den Himmel über mir sehe ich nicht mehr, ausser dem Ausschnitt über den Ausfallstrassen. Höre ich den inneren Himmel, die Stimme meines Gewissens, noch?

Ich wusste gar nicht – ich habe mich völlig davon entwöhnt – dass diese Welt noch so viel Schönes hat. Als ich in der Morgen-Dämmerung nach Hause laufe, höre ich den Vogel, «pi-pii, pi-pii», macht er.  Eine Freude durchzuckt mich. Es ist der Vogel, der den Frühling ankündigt. Ganz bescheiden sägt er seine zwei Töne in die Morgenfrühe. Aber mir ist, als ob etwas Neues, Schönes kommen sollte, das auch mein Leben verändert.

 

Foto von Vladyslav Dushenkovsky, Pexels

Das Zitat Kants: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir» findet sich in «Kritik der praktischen Vernunft, Beschluss».