Das Hingabe-Verbot

Sandra hat mir ein Buch geschenkt. Die Haupt-Erzählung ist die Analyse einer verfehlten Hingabe in den 30er Jahren. Scheinbar geht es um einen jungen Mann, der von einem Kreis von Menschen ausgewählt wird, weil er eine Aufgabe in dem kommenden «neuen Zeitalter» übernehmen soll.

Grosse Erwartungen
Das lenkt aber den Blick auf die Teilnehmer dieses Kreises, auf ihre Hoffnungen und Erwartungen und wie sie mit ihrem Leben umgehen: warum sie die Verantwortung nach aussen verlagern und auf einen Dritten projizieren, den sie dann als Führer anerkennen.

Die Erzählung entfaltet die Erkenntnis, dass Hingabe und Führung zwei sich entsprechende Funktionen sind, die sich gegenseitig hervorbringen. Wer die Verantwortung für sein Leben nicht übernimmt, sendet Erwartungen aus, die andere aufgreifen, so dass es zu Übergriffen auf sein Leben kommt. Aber die Gewalt geht nicht von ihnen aus, sondern vom Hingabebereiten, der sich vor der Verantwortung drückt.

Clowns?
Der Wunsch nach Hingabe und der Wunsch nach Führertum hängen zusammen. So müsste auch heute ein Führertum präsent sein!? Manchmal hat man den Eindruck, dass heute lauter Clowns an die Spitze der Staaten treten, angefangen mit Silvio Berlusconi, Beppe Grillo über Donald Trump bis Boris Johnson. Sollten das Führergestalten sein? Man subsumiert sie meist unter Populismus.

Der «Populismus» bringt offenbar Leader-Gestalten hervor, die sich stark an den Erwartungen ausrichten. Jedenfalls äusserlich. Sie bedienen die Bedürfnisse, nehmen Stimmungen auf, orientieren sich an der Atmosphäre. Das geht nur bei einer Trennung von eigenem Denken und äusserem Verhalten. Das eigene Denken tritt in den Hintergrund, wird privat, es versteckt sich hinter der Maske dessen, der die Erwartungen aufnimmt und scheinbar «anführt».

Das Spiel
Ja, er strebt wohl wirklich nach Anführen und Führertum. Und die Massen-Phänomene mit ihrer Psychologie, nach der man sich einreiht hinter etwas, nach der man Identitätsgewinn sucht durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Mehrwert verspricht, diese Massenpsychologie macht es leicht. Er muss nur die Erwartung aufnehmen, sich die Maske überstreifen. Es braucht nicht einmal besonders gute schauspielerische Fähigkeiten.

Wer diese Politiker in Echtzeit beobachtet, staunt, wie viel Lücken und Patzer in ihrem Spiel erlaubt sind. Fast spielen sie damit, lassen durchblicken, dass sie das Ganze gar nicht so ernst nehmen, dass sie nur etwas vorspielen, dass sie aber eigentlich ganz anders denken. Die Fans verzeihen ihnen, sie spielen mit.

Es ist gar nicht so ernst gemeint
Durchschauen sie das Spiel nicht? Oder spielen sie dann nur umso lieber mit, weil sie das gerade suchen: dass einer ihnen sagt, das Ganze sei gar nicht so ernst, es sei nur ein Spiel und er stehe jetzt mal hin und gebe für diesmal die Karten aus. Nachher könne man die Karten ja wieder zusammenwerfen und neu austeilen?

Das ist wohl leichter zu ertragen als die links-progressiven Moralisten, die ewig die Schuld der Welt auf der Schulter tragen, die die Welt erlösen wollen und brave Wähler suchen, die sich unterordnen unter ein bierernstes Erlöserspiel, das ganz ohne Humor auskommt?

Nach dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts mag man das Führertum nicht wiederaufleben lassen, höchstens in sarkastischer oder ironischer Form. So erklärt sich, wie Komiker Politiker werden und Kabarettisten Parteien gründen.

Kürzlich sah ich einen Ausschnitt aus einer Wochenschau aus den 30er Jahren, die Mussolini bei einer Rede zeigte. Bei all dem Grauen, das der Totalitarismus der 30er Jahre real über Europa brachte – das war ein Clown, der hier Faxen machte und sich hinter dem Mikrophon aufspielte. Sollte jemand darauf hereingefallen sein? – Ja, zu Millionen. Ein clowneskes Auftreten und eine Politik mit Millionen Toten, das muss sich nicht ausschliessen. Und das lässt Ungutes für unsere Zeit befürchten.

Sollen wir die internationale Sicherheit solchen Personen anvertrauen? Das lenkt den Blick wieder auf uns zurück, auf unsere Hingabe-Bereitschaft, die Unlust, unsere Verantwortung selber zu tragen und lieber eine Figur zu wählen, die verspicht, das für uns zu erledigen.

 

Aus Notizen 2019
Das erwähnte Buch ist: Ernst Wilhelm Eschmann, Ein Gott steigt herab, Hamburg und Düsseldorf 1968.
Foto von Marek Piwnicki von Pexels