Die toten Kinder

Gestern war ein Bericht in der Zeitung über ein katholisches Waisenhaus in Irland, wo offenbar über Jahrzehnte Kinder vernachlässigt wurden. Als sie starben hat man sie in einem Schacht „begraben“. Zwei Jungen fanden den Eingang beim Spielen. Offenbar liegen dort meterhoch Kinderleichen. Sie fassten einen Schock fürs Leben und können erst jetzt davon erzählen, nach 20, 30 Jahren.

Es ist nicht zu ertragen. Ich mag mich kaum damit befassen.

Die Kirche hat keinen „Bonus“ mehr. Sie hat einen „Malus“. Sie muss sich rechtfertigen, wann immer sie in der Öffentlichkeit als Kirche erkennbar wird. Und der Malus wird durch solche Nachrichten immer mehr befestigt.

Alle müssen sich fragen, wie das möglich war und wie es mit der Institution Kirche vereinbar ist und mit der Lehre der Kirche. Es steht alles unter Generalverdacht.

Man kann nicht mehr „Papp“ sagen, das Maul nicht mehr auftun als Mitglied der Kirche. Sie müssen einem ja draufschlagen, wenn nicht das erste Wort ist: Bedauern, Entsetzen, ein Teilen der Gefühle und der Werte. Und die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt in der Kirche zu reflektieren, ob da etwas steckt, was das möglich machte.

Man kann sich vorschnell distanzieren: „Wir tun so etwas nicht, uns geht das nichts an.“ Aber es waren Waisenhäuser, und sie waren Nonnen anvertraut. Es lief unter dem Titel Kirche oder kirchliches Engagement.

Ist es nur eine Konfession, die betroffen ist? Ist es die soziale Situation, das Milieu im katholischen Irland? Ist es die Armut damals, die Nachlässigkeit, die Lieblosigkeit gegenüber Randgruppen allgemein in der damaligen Kultur?

Ist es ein Virus, der auch uns infizierbar macht: als Kirche, als Kultur, als Gesellschaft in der Schweiz? Haben wir genügend Abwehrkräfte dagegen: in der Kirche, in der Kultur, in der Gesellschaft der Schweiz?

Wäre eine Verdammung der Kirche, des Christentums eventuell eine billige Form von Bewältigung? Würde man dann die Augen schliessen vor analogen Vorkommnissen in andern Bereichen, die nicht unter einem christlichen, kirchlichen oder religiösen Titel laufen? (Etwa die Kinder, die zu Bauern verdingt wurden. Oder die Fahrenden, die Asylbewerber, die Papierlosen, die Wirtschaftsflüchtlinge, die Drogensüchtigen etc.)

Müssen wir alle uns also diesen Fragen stellen? Und nicht schon eine Triage vornehmen, bevor wir genauer hinschauen? Nicht schon beim ersten Hinsehen das Feld aufteilen, damit der mögliche eigene Anteil schon weggeschafft ist, bevor das Feld genauer aufgerollt wird?

Jede Suchbewegung in Richtung Kollektivschuld ist ein defensives Manöver. (Wenn „alle“ irgendwie schuldig sind, hat niemand mehr Verantwortung). Jede vorschnelle Treffergenauigkeit bei der Identifikation des Schuldigen desgleichen. (Wenn „der“ es ist, muss ich bei mir nicht mehr nachsehen.) Es muss offen bleiben.

Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der uns aufgegeben ist: da hindurch zu gehen. Wir sind im Innersten getroffen, denn diesen Wert teilen wohl alle noch: dass Kinder zu behüten sind und nicht zu schädigen. Dass Leben gerettet werden soll und nicht getötet. Dass ein Kind auch im Waisenhaus einen obersten Wert darstellt. Dass die Wertschätzung des Menschen – auch in seinem schwächsten Glied – den obersten Verfassungszweck unseres Staates darstellt. Es ist eingeschrieben ins Fühlen und Empfinden der Menschen. Aber etwas hat versagt. Es ist elementar, und doch konnte es geschehen.

Was ist schief gegangen? Wie viel an Enttäuschung, Resignation, Sich-Schicken in Armut und Gleichgültigkeit ist nötig, bis man wegschaut und froh ist, „Problemkinder“ irgendwie aus den Augen schaffen zu können?

Wie viel Gewöhnung ans Elend braucht es, wieviel fruchtlose Versuche, daraus auszubrechen, bis man die Augen zu schliessen beginnt vor dem sozialen Elend? Dann ist man froh, nicht mehr daran erinnert zu werden. Man hat ja eine Lösung. Die Verdingkinder sind versorgt, die Waisenkinder sind versorgt, die Flüchtlinge sind versorgt. Irgendjemand ist zuständig. Die kann man dann zur Verantwortung ziehen, wenn das Versorgte wieder Sorgen macht, wenn das Weggeräumte wieder zum Vorschein kommt, wenn der Bodensatz hochkommt.

Es ist das, was die Gesellschaft und Wirtschaft auf der Rückseite ihres Konsums und Glamours erzeugt. Wir machen stillschweigend immer eine Rechnung. Wir teilen die Welt in zwei Hälften, in Schatten und Licht. Und wir wollen auf der Lichtseite stehen. In die Industriebrachen bauen wir schicke Trendquartiere. Die Herstellung der Güter ist nach China verlagert. Dort ist den Arbeitern jetzt der Kampf um Lebensbedingungen aufgegeben. Sie haben noch kaum Gewerkschaften, in dem ehemals sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat. Es kommt reihenweise zu Suiziden, Menschen, die sich vom Fabrikgebäude stürzen.

Ich kaufe ein T-Shirt für 17.- In Bangladesch verdienen sie mit der Herstellung kaum den Lebensunterhalt, und sie sparen an den elementarsten Sicherheits-Anforderungen. Bei uns käme das nicht vor, dass eine Fabrik einfach zusammenstürzte und Hunderte von Arbeiterinnen unter sich begräbt, bei uns gäbe es Feuerschutz-Vorschriften. Weil es das alles dort nicht gibt, wird die Produktion dorthin verlagert. Wir sitzen im Licht und sie im Schatten. „Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht / und man siehet die im Lichte / die im Dunkeln sieht man nicht.“ – Bertolt Brecht, Dreigroschenoper

 

2021 hat sich der irische Regierungschef öffentlich entschuldigt, nachdem ein neuer Bericht zu Irlands «Mutter und Baby-Heimen» erschienen war. Diese Heime wurden von katholischen Orden geführt, standen aber unter staatlicher Aufsicht.

Der Blog-Beitrag stammt aus dem Jahr 2014. Damals wurde ein Massengrab mit 800 Kinderleichen entdeckt. Das Grab war bereits in den 70er Jahren gefunden worden. Damals brachte man es aber mit den Opfern der irischen Hungersnot im 19. Jh. in Verbindung.

In Irland war die katholische Kirche lange unbestritten. Noch immer bekennen sich viele Iren zum katholischen Glauben, doch das Land hat sich grundlegend verändert. 2018 stimmten die Iren für eine Lockerung des strengen Abtreibungsverbots. Im Jahr 2015 führte Irland als erstes Land der Welt per Volksentscheid die Homo-Ehe ein.