Regen in den Bergen

Am Samstagabend habe ich mir einen alten buddhistischen Film angesehen, «Regen in den Bergen». Es beginnt mit einer Räubergeschichte, zwei Diebe dringen in ein Kloster ein. Auch Würdenträger sind auf dem Weg, ein General und Gouverneur der örtlichen Provinz und ein Mäzen, der das Kloster immer wieder unterstützt. Alle sind hinter einer alten Textrolle her.

Sie hat einen grossen materiellen Wert, sie stammt von einem Meister des Buddhismus und gibt einen zentralen Text der Lehre wieder. Man könnte viel Geld dafür lösen. Der inhaltliche Wert – das ist die Lehre, die dort zu finden ist: Was das Leben sei und wie man es am besten verbringt. Der Film, das sind zwei Stunden von Intrigen, Machtspielen und dem Versuch, diese Rolle ganz einfach zu klauen. (Die Kämpfe und Verwicklungen erinnern an einen Schwank im Theater.)

Wer wird neuer Herrscher?
Konterkariert ist das durch die Geschichte, wer der Nachfolger des mächtigen Abtes werden soll, wer sich dafür eigne und wie man diesen finde. Auch hier dieselben Manöver von Macht, Einfluss und Schlaumeierei. Das Geschehen widerspiegelt die Lehre der Schriftrolle – ich kenne sie nicht, aber so ist es zu vermuten. Da sind die Realitäten dieser Welt und die Versuche, damit klar zu kommen. Und es gibt eine andere Sicht auf die Wirklichkeit. Diese wird nicht in eine «Hinterwelt» verlegt, es ist kein Jenseits. Es existiert in dieser Welt, aber der Abt hat mehr davon gesehen, er kann besser damit umgehen. Und dabei spielt die Verneinung der gewöhnlichen Sicht auf die Welt eben doch eine Rolle.

Die Zeitung, die ich zum Frühstück lese, wirbt mit Bildern einer Weltreise. Viele tolle Produkte sind da, es fällt mir leicht darauf zu verzichten. Ich plane keine Reisen, will keine Familie gründen, nicht Karriere machen. In meinem Alter führen die Wege nicht hinauf, sondern hinab. Nicht in ein trauriges Hinab (weil es im Alter immer auf den Tod zulaufe). Es geht um den heutigen Tag. Das ist die Frage, wie ich diesen Moment zu leben verstehe. Und wenn es mir gelingt, dann ist es mit einer Haltung, mit der ich jeden Moment des Lebens gut leben kann, nicht nur das Ende. Es hat etwas zu tun mit Mitte, mit dem Inbegriff des Lebens, und der ist überall, am Anfang, am Ende und irgendwo zwischendrin.

Die Wendung
Es hat zu tun mit aushalten, nicht davonrennen, «da» sein, offen sein für das, was sich zeigt, in der Gegenwart. Das Schwerste ist, den dunkeln Bildern zu widerstehen, die aufsteigen wollen, weil sie an Dinge erinnern aus der frühesten Kindheit. Sie geben eine lebenslange Richtung vor: «So nicht mehr!» beschliesst man und kann so ein ganzes Leben verpassen. Ich will mich umdrehen und dem entgegengehen was mir im Nacken sitzt. Wenn ein Kind davongekommen ist, so heisst es, hat es schon eine Wahl getroffen. (Ein Kleinkind habe so viele Möglichkeiten, davonzugehen, sagte eine Psychologin, wenn es bleibt, hat es das Leben gewählt.)

Auch der Film vollzieht eine Wendung. So wird der ehemalige Sträfling (er wurde zu Unrecht angeklagt, seine Ankläger haben ihr Verbrechen auf ihn abgewälzt) zum neuen Abt gewählt. Und die Schriftrolle – auf dem Höhepunkt der Ereignisse verbrennt der alte Abt die Rolle und händigt den Häschern, Räubern und Jägern eine Kopie aus. Der materielle Wert geht in Rauch auf; der immaterielle Wert wäre in der Lehre zu finden, in der Einsicht die sie vermittelt. Dieser unsichtbare Wert zeigt sich durch den ganzen Film. Er hat keinen Preis, ist umsonst zu haben, und doch macht er den Bettler zum Abt, den Sträfling zum Würdenträger. Um diesen Wert zu erlangen, muss man ein Leben lang der Einsicht folgen, die die Rolle lehrt. Den Räubern ist das zu teuer. Diesen Preis wird niemand aufbringen, der es nicht mit ganzer Seele erhofft.

Der Bettler wird Abt
Als der Abt die alte Schriftrolle verbrennt und den Räubern eine Kopie überreicht, lassen sie diese achtlos fallen. Der angebliche Räuber aber, der am Anfang des Films einen Schandkragen trug und von jedem verhöhnt werden konnte, der ihnen begegnete, wird freigesprochen. Das Mitleid, von dem die Rolle spricht, das hat er praktiziert. So verdient er es, neuer Abt zu werden. Und in dem grossen Kloster kann Ruhe einkehren, weil die Intrigen hier keinen Ort haben.

 

Der Film «Regen in den Bergen» (chinesisch «Pinyin Kōng shān líng yǔ» – „leere Berge, beseelter Regen“, internationaler Titel «Raining in the Mountain») ist ein Film von King Hu aus dem Jahr 1979. 2018 wurde eine Version des Originalfilms durch das Taiwan Cinema Digital Restauration Project restauriert und vom Taiwan Film Institute veröffentlicht. (Wikipedia)

Foto von Ryutaro Tsukata, Pexels