Die Geschichte kehrt zurück

Die Zeitungsschlagzeilen heute (14.1.1991): Die letzte Friedensinitiative des UNO-Generalsekretärs im Irak vor Ablauf des Ultimatums am 15. Januar ohne Ergebnis abgelaufen. Im Schatten dieser Kriegsvorbereitungen hat die Sowjetarme militärisch in Litauen interveniert und eine Marionetten-Regierung an die Macht gebracht.

Der Alltag ist aufgehoben
Das Aufrüttelnde an den Meldungen war die Infragestellung alles dessen, was „Alltag“ ausmacht – dieses Blicks auf die Welt, der Bedenkliches und Unbedenkliches säuberlich trennt, der „Probleme“ ausgrenzt und im Übrigen einen Bereich frei hält, der problemlos scheint – einen Alltag eben, wo man sich ohne viel Gedanken den Routinen überlassen darf, dem bedenkenlosen Funktionieren.

Zuschauen
Heute Morgen, als ich noch schnell die Wäsche von der Leine holte, dachte ich: Sollten wir uns getäuscht haben? Ist unser Leben gar nicht so belanglos, wie wir uns das bisher vorgestellt und wie wir uns eigerichtet hatten? Bin ich wirklich gefordert? Bin ich nicht ein ewiger Eckensteher, einer, der unauffällig in der zweiten Reihe steht?

Hat denn „Geschichte“ nicht nur was mit Vergangenheit zu tun, während wir in dem ewig geschichtslosen Zustand der „Nachkriegszeit“ verharren, welche wegen ihres „Wohlstands“ wohl auch Probleme kennt, wie Inflation, ausgetrockneten Arbeitsmarkt, Wohnungsnot, die aber doch niemals von „Geschichte“ eingeholt werden kann?

Kopfeinziehen
Die ganze Welt hat nach dem 2. Weltkrieg den Kopf eingezogen. Wir haben einen riesigen Deckel über alle Ängste gestülpt, haben nie aufzumucken gewagt, aus Angst, DAS könnte sich wiederholen. Wir haben kollektiv, im Weltmassstab verdrängt, und jede Lebensäusserung wurde an die kurze Leine gebunden: Niemand sollte sich zu laut bewegen, aus Angst, dass JENER auf uns aufmerksam werden und wieder zuschlagen könnte.

Erst vor einem Jahr hat die Welt den Deckel abgehoben. Sollte es möglich sein, dass es Frieden gibt, und nicht nur Grabesruhe – das Totstellen unter der Angst vor einer Wiederbelebung der Traumata des letzten Weltkriegs? Sollten wir wirklich wieder laut werden dürfen? Sollte es möglich sein, zu seinen Bedürfnissen zu stehen, seinen Lebensäusserungen Laut zu geben? Sollten wir wieder streiten dürfen?

„Neue Weltordnung“
Und schon brechen die Konflikte wieder auf breiter Ebene aus. Die ganze Nachkriegs-Ordnung wird infrage gestellt. Die UdSSR stösst ihren „cordon sanitaire“ ab, der einst von Frankreich gegen das revolutionäre Russland gebildet wurde und den darauf das revolutionär gefestigte Russland gegen die Bedrohung von Westen als Pufferzone wiederaufbaute, von Panzern besetzt, von Marionetten-Regierungen gleichgeschaltet.

Damit wird auch die deutsche Ostzone frei, sie kann „wiedervereinigt“ werden. Mit dem Ende der ideologischen Frontstellung („Weltrevolution“ hier und „containment“ dort) werden überall auch die innenpolitischen Gegensätze entschärft. Es folgt eine weltweite Entspannung, im Innern wie im Äussern. In der Schweiz werden die ideologischen Abwehrdispositive „enthüllt“ und abgebaut: die „Fichen“, die vorbereitete Zwangsinternierung „unsicherer Patrioten“, die Geheimarmeen.

Nur ein Atemholen
Ich will das Positive nicht vergessen: Würde, Entwicklung, „Gelingen“ des Lebens – das erfordert Konfliktfähigkeit, Streiten. Das vorschnelle Vermeiden-Wollen von bestehenden Konflikten führt zu depressiver Selbst-Aggression, zu falscher Demütigung (statt richtiger Demut), zu Resignation und zu einem Verloren-Geben des Lebens. Es fliesst in falschen Alltagsroutinen dahin, während das Unrecht immer grösser wird.

Es war nötig, diesen Deckel der Angst abzuheben, den der Zweite Weltkrieg mit seinem Trauma über uns stülpte und der wegen der gegenseitigen atomaren Bedrohung im Kalten Krieg so lange auf uns liegen blieb. Es war nötig, wieder frische Luft zu schöpfen (wenn es auch nur einen Atemzug lang andauerte), um uns Kraft zu geben, uns anders zu betten, um aufzuschreien, weil uns ein anderer während 50 Jahren auf den Füssen lag, während wir uns unter dem Angstdeckel nicht rühren konnten.

Erschreckend ist nur, dass diese Konflikte bei einer bisher nie dagewesenen Hoch-Rüstung ablaufen, dass chemische, biologische und atomare Waffen im Spiel sind, dass eine Verbitterung da ist, die auch vor einem Einsatz nicht zurückschreckt. Dass also das gesunde Streiten in einen höchst ungesunden Krieg auszuarten droht, der nicht – wie das Streiten – zu einer neuen Versöhnung führen kann, zu einem Neuanfang, oder höchstens in langen historischen Dimensionen, bis so tiefe Narben verheilt sind.

 

Aus Notizen 1991

Im Rückblick: Damals begann der «zweite Golfkrieg». Wikipedia vermeldet unter diesem Datum: «Ab dem 16. Januar 1991 begann eine Koalition, angeführt von den USA und legitimiert durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrates, mit Kampfhandlungen zur Befreiung Kuwaits.»

Foto: Ein Grenadier à cheval in der Uniform des Siebenjährigen Krieges. Um 1760. Bild gemeinfrei.