Drinnen und draussen

Ich lese „Die Räuber vom Liang Shan Po“. Sie leben am Rand, sind ausgestossen. Sie haben gegen Unrecht protestiert. Es ist ein Zustand der „Desintegration“ – er zeigt sich in ihrer Randständigkeit, er meint aber das ganze Reich, das sich nicht einen kann. Die Gegensätze nehmen zu. Auch der einzelne kann so nicht zur Ganzheit kommen und mit sich übereinstimmen.

Das Buch ist einer der klassischen Romane der chinesischen Literatur. Es kommt daher wie ein Abenteuer-Roman, es handelt aber von Korruption und guter Reichsregierung. Es kann parallel zu biblischen Geschichten zu diesem Thema gelesen werden.

Eine Gesellschaft, zwei Gesellschaften
Der in den Untergrund vertriebene Verwalter Sun verkörpert das Bild eines messianischen Herrschers, er lebt als eine Art Räuberhauptmann wie der alttestamentliche David, bevor er hervortritt und ein Regierungsamt übernimmt. Die Erwartung einer Zeit des Friedens in Gerechtigkeit knüpft sich an seine Machtübernahme, da sein Ruf schon durchs ganze Land ging. Er ist der Helfer der Bedrängten, „der Regenspender von Shantung“.

Am Anfang steht die Erzählung, wie die einzelnen „Recken“ zur Bande stossen und was sie alles können. Am Ende sind es über hundert Anführer, die mit Zehntausenden von Menschen in einem Moor leben, wo sie eine Art Gegengesellschaft bildet, bis sie begnadigt und wieder in das Reich integriert werden.

Der Kern einer neuen Gesellschaft
Die Lesefreude am Anfang lebt wesentlich vom Motiv «der Sechse, die durch die ganze Welt» kommen. Jeder Held ist einzig in seiner Art, jeder kann etwas, das der Bande nützt. Und gerade das hat ihr bisher gefehlt. So stossen immer mehr dazu, bis alle gesammelt sind, die ein Ganzes ausmachen: eine Gesellschaft, die aus sich leben kann.

Der Räuberhaufen wird im Lauf der Geschichte immer stärker. Sie bekommen Zulauf von Ausgestossenen der Gesellschaft. Sie können jetzt auch in der äusseren Welt Paroli bieten. Allmählich sind sie zu gross, als dass man sie weiter ignorieren könnte. Sie bekommen Amnestie, werden rehabilitiert, erhalten Ämter im Reich.

Die Gerechtigkeit des Ganzen ist wieder hergestellt. Es war nicht sinnlos, dass sie in den Busch gingen. Es war notwendig und hat dem Ganzen geholfen. Jetzt kann der einzelne sich integrieren – in der Gesellschaft und in sich selber.

 

Aus Notizen 2008
Foto von Tara Winstead von Pexels

Die Geschichte der Räuber vom Liang Shan Po spielt im 12. Jh. und wurde mündlich überliefert, bevor sie im 14. Jh. schriftlich festgehalten wurde.
Es ist eine Erzählung vom «Rand: Aber eigentlich ist etwas «im Zentrum» nicht in Ordnung, es wird an den Rand gedrängt. Es sucht Schutz in der Wüste, in den unzugänglichen Gegenden eines Moors oder eines Gebirges.
Es ist ein Kommentar zum Zustand in der Mitte, zum Staat, zum Königreich. Die Integration dieser Menschen gelingt erst, wenn das Reich sich wieder integriert, wenn es wieder zum Recht findet. Dann können auch die Menschen als Individuen sich wieder integrieren: Sie können die soziale Isolation überwinden, den Status als „Outcast“, aber auch die Zerspaltenheit in sich selbst.