Wassernot

Wassernot – die «Sündflut»

Unrecht schreit zum Himmel – und der Himmel gibt Antwort. Die Schreibweise „Sündflut“ bringt es zum Ausdruck: die Überzeugung, dass die Natur das Unrecht strafen wird. Eine Naturkatastrophe wird mit dem Recht zusammengedacht. Es wird Verantwortung gesucht und zugeteilt.

Als gestern das Unwetter wütete und es in der Zeitung hiess, ein solches Unwetter komme alle drei Jahrhunderte vor, suchte ich in meinem Büchergestell und fand die Erzählung „Wassernot im Emmental“ von Jeremias Gotthelf. Heute regnet es auch bei uns den ganzen Tag. Das rechte Wetter, um die alte Geschichte wieder zu lesen.

Die Wassernot im Emmental
In die Erzählung ist eine Sage eingebettet, die den Gehalt viel eindringlicher zur Geltung bringt, unter Einbezug mythologischer Bilder, wie es in einem Märchen, in einer Sage, möglich ist. »Vor vielen tausend Jahren», so beginnt die Sage. Sie erzählt vom Schloss Brandis, das früher an einem anderen Orte stand. Sie wurde bewohnt von einem Zwingherrn, der die Bauern durch Frondienste davon abhielt, die Emme zu sichern. Das Unrecht war so gross, «dass die Steine hätten schreien mögen».

Der Zwingherr
«Zur selben Zeit wohnte in dem Schlosse ein gar grausamer Zwingherr, der seine Leute ärger behandelte als das Vieh. Das ganze Jahr durch mussten seine Lehensleute oder Leibeigenen für ihn bauen, jagen, pflügen, fischen, holzen. Er war grausam reich, und alles Land weit und breit gehörte ihm. Er sass ganze Tage auf hohem Turme und schaute über all sein Land weg, wie seine Bäuerlein arbeiteten für ihn; und wenn er eins nicht emsig genug glaubte, so geisselte er es abends im Schlosshofe mit eigener Hand oder sprengte flugs auf seinem fuchsroten Hengst an ihns hin und schlug es, dass die Steine hätten schreien mögen.

Nicht halb genug gab er ihnen dazu zu essen; sie mussten dann noch zu Hause den Weibern und Kindern wegessen, was diese mit Not und Mühe für sich gepflanzet hatten. Selten einen Tag hatte ein Mann, um für sich zu arbeiten, und doch sind sie ihm das laut ihren alten Pergamentbriefen nicht schuldig gewesen. Aber wenn einer ein Wort nur redete von diesen Briefen, oder dass ihm sonst etwas nicht recht sei, so warf ihn der Zwingherr ins Turmloch und liess ihn dort unter Kröten und Schlangen verrebeln. Man soll diese Gefangenen oft bis ins Tal hinab haben schreien und lamentieren hören.»

Oben und unten
Gotthelf verbindet realistische Schilderungen im Stil moderner Reportagen, mit Sagen, die einen weiteren Gehalt zu Wort bringen sollen. Hier ist auch die Intuition von Recht und Richtigkeit aufgehoben, in einem weisheitlichen Sinn, wie man betet im «Unser Vater»: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe im Himmel und auf Erden!“

«Oben» und «unten» hängen in diesem Weltbild zusammen. Unrecht schreit zum Himmel, und der Himmel gibt Antwort. Die Schreibweise „Sündflut“ bringt es zum Ausdruck: die Überzeugung, dass die Natur das Unrecht strafen wird. Gott straft im Gewitter, er schickt Feuer und Wasser vom Himmel. Die gute Ordnung ist gestört, von der die Weisheit handelt. So ist die Sage auch ein Stück prophetische Literatur, nicht die Prophetie der Bibel, aber in ihrem Anklang. Es ist ein Stück Anklage gegen soziales Unrecht. Gerechtigkeit wird hier nicht formal gedacht, sondern material. Es beinhaltet Teilhabe an dem Lebensnotwendigen. Und wenn auf Erden keine Gerechtigkeit zu finden ist, so wird Gott eingreifen.

Die biblische Predigt schlägt in der Sage in eine Gruselgeschichte um von „Wiedergängern“, von Seelen, die im Jenseits keine Ruhe finden, wie dieser Zwingherr, der die Bauern davon abhält, die Emme zu sichern. So kommt es zu einer Überschwemmung. Und noch Jahrhunderte später hört man nachts die Schläge seines Wiedergängers, der keine Ruhe findet, bis die Emme einst gesichert ist. Er schlägt nachts die Schwellen ein, die das Land sichern.

Unwetter auch bei uns
«Die letzten Tage herrschte auch bei uns eine Untergangsstimmung.» So schrieb ich im Tagebuch. «Die Wetterlage legte ein stabiles «Omega» über Europa, das immer neue Regenwolken über das Land schaufelte, von Skandinavien bis Italien, während England im Westen und Russland im Osten unter Hochdruckgebieten lagen. In Kalifornien herrscht offenbar Trockenheit und die Wälder brannten.»

 

Im Nachhinein betrachtet
Die Ursache des Unglücks war in dieser Erzählung nicht, dass die Bauern die Emme nicht sichern konnten, das war nur der Auslöser. Grund war, dass der Zwingherr die gerechte Weise des Zusammenlebens zerbrochen hatte. Das rief den «Zorn Gottes» hervor, die Reaktion der guten Ordnung gegen den Verstoss.

So wird auch heute, wenn Katastrophen geschehen, gern von der schlechten Verfassung der Staaten berichtet, von Not, Korruption und steigenden sozialen Ungleichgewichten, auch wenn das mit der Natur-Katastrophe direkt nichts zu tun hat. Aber unser Sinn für die gerechte Verfassung der Wirklichkeit wird verletzt und wir erwarten eine Reaktion, die wir selber nicht geben können. Es ist die gute Ordnung selber, die ihre Verletzung ahndet.

Der «Wiedergänger» in dieser Sage, das ist nicht einfach ein «alter Aberglaube». Darin steckt das Bewusstsein für Gerechtigkeit, das einen Ausgleich suchte und auf Erden keinen Richter fand.

 

Aus Notizen 2014
Foto von MC Brooks von Pexels
Literatur: «Die Wassernot im Emmental am 13. August 1837», von Jeremias Gotthelf, Erzählungen und Kalendergeschichten, Erlenbach, Zürich 1952 (die Sage auf S. 40).