Natur-Mystik

Es hat schon was Beschränktes, wie ich mir um die „Natur“ Sorgen mache. Das kommt von weit her und geht weit hinaus. Und es ist riesig, über alle Vorstellung hinaus. Und das Leben auf diesem Planeten hat schon viele Zustände durchgemacht.

Es ist eher so, dass ich die Wehmut eines alten Mannes, der sein Leben zu Ende gehen sieht, verwechsle mit den Ängsten eines Zuschauers, der vom Klimawandel gehört hat und überall das Ende des Lebens kommen sieht.

Die Welt ist gross, das Leben unergründlich. Es umarmt sogar den Tod und hebt ihn auf. Er ist nur ein Stadium auf dem Weg. Und dieser ist von kosmischer Weite, in Zeiträumen, in denen ein Weltall sich entfaltet.

Aufgehoben
Irgendwo fragte ich mich kürzlich, ob es heute noch eine „Natur-Mystik“ geben könne. Gemeint ist jenes Gefühl, in der Natur „aufgehoben“ zu sein, weil wir uns als Teil von ihr erkennen, weil sie als lebensbejahend erlebt wird. Ich erinnerte mich dort an meine Kindheit: wie die Erde roch nach einem Regen. Oder die Haare, wenn ich auf dem Fahrrad in einen Regen geriet und triefnass nach Hause kam. Es war nicht nur der Geruch, aber das Gefühl, getragen zu sein und auf dem Weg zu sein zu einem grossen Geheimnis.

Das war die Kindheit, die mir zu Hilfe kam, ein Gefühl, nicht von Unverwundbarkeit (das kannte ich eher als junger Mann), aber von Zugehörigkeit. Hatte ich es nicht erlebt, wie alles nacheinander kam: die Zähne, das Gehen, das Reden, die Schule, die erste, zweite, dritte Klasse. Wir waren fünf Geschwister, da sah man es immer wieder. Und die ältesten waren schon dort, wohin man erst zu gelangen hoffte. Sie hatten Freundinnen, gingen ins Kino und durften sie küssen…

Das half der „Naturmystik“ auf die Sprünge. Und ich muss nicht mal darüber spotten. Die Erotik ist eine starke Stimme, die eines Tages in uns laut wird. Sie erschliesst uns eine ganze Welt. Und bevor wir sie noch erleben, mit ihren Freuden und Verletzungen, mit ihrem Glück und ihrer Einsamkeit, lebt sie in Bildern voller Hoffnung und Erwartung. Und diese werden genährt vom Beispiel der älteren Geschwister. Es war keine Frage, so etwas würde ich auch erleben. Ich musste nur erst älter werden, und die kurzen Hosen ausziehen, die die Kleinen trugen, und längere bekommen.

Jugend
Das war die Jugend, die viel beitrug zu jener Naturmystik. Und jetzt bin ich ein alter Mann. Ja, die Blätter werden nicht alle farbig, bevor der Herbst sie abstösst. Da gibt es schon im Sommer Blätter, die sich zusammenkringeln, braun werden und vertrocknen. Da gibt es viele Kronen, die dünn sind und ausgelichtet. Das Sterben geht nicht überall vor sich, wie ein Herbst kommt. Auch da gibt es die „Kipp-Punkte“.

Aber die „Natur“, das ist für alles Lebende schlicht das Umfassende. Sie hat begonnen – die Naturwissenschaft erzählt ihre Geschichten aber sie bringt kein einziges Staubkorn hervor, das nicht vorher schon da gewesen wäre. Die „Natur“ hat Leben hervorgebracht. Und sie beendet es. Vom Umfassenden kann man erzählen. Aber man kann es weder aufheben noch erzeugen. Wir sind schlicht ein Teil. Und wenn wir uns das vergegenwärtigen, dass wir ein Teil sind, dann ist auch die Empfindung wieder möglich, Teil eines grossen Geheimnisses zu sein.

Dann ist auch die Ruhe wieder zu finden, dass wir getragen sind, auch wenn wir es nicht begreifen, weil es alles Begreifen übersteigt. Dann ist auch die Empfindung jenes Heranwachsenden wieder möglich: dass wir auf etwas Grosses zugehen, ein schönes Geheimnis, das sich an uns vollziehen wird.

Die grosse Hochzeit
Die Bibel fasst die Endzeit in das Bild einer grossen Hochzeit. Da wird die Stadt Jerusalem vom Himmel herabkommen, geschmückt wie eine Braut. Und Gott wird bei ihr sein. „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Off 21).

Das ist aber nicht (nur) Natur-Mystik. Hier wird eine Stimme laut, die auch die Geschichte des Menschen gesehen hat. Da geht es nicht nur um Morgen und Abend und Sonne und Mond, sondern auch um Schuld und Unschuld, um Aufbruch und Zerstörung. Auch der Weg der Menschheit wird an ein Ziel kommen, so wird hier gesagt.

Und diese Zuversicht beruft sich nicht nur auf die Erfahrung der Natur und des eigenen Werdens. Sie beruft sich auf die Erfahrung der Generationen, die vor uns gewesen sind und wir erkennen uns in ihren Worten. Wir erkennen uns in dem Entsetzen, von dem sie berichten, in der Furcht, die sie durchlebt haben. Wir erkennen uns in dem Glück, von dem sie erzählen und in der Hoffnung, die sie haben.

Das Gebet
Auch wir kennen jenes „Du“, in dem sie alle Wirklichkeit sich gegenüber stellen und das sie ansprechen im Gebet. Auch wir kennen die Ruhe und den Frieden, der sich einstellt, wenn wir vor ihn treten und alles ihm übergeben, auch uns selbst.

Und wir werden uns selber zurückgegeben, neu, mit neuer Zuversicht. So dass wir auf alles zugehen können, was vor uns steht. Sei das Jugend oder Alter, Leben oder Tod. Oder das Grosse, das vor uns steht und das uns versprochen ist.