Erlaubnis zur Religion

Damals war ich auf der Suche nach dem Glauben. Ich ahnte etwas von Religion und Glauben, aber die Beschäftigung mit Religion war damals noch „verboten“. Die Religionskritik wurde damals von der Linken vorgetragen.

Die Welt verändern
In den 60er und 70er Jahren gab es eine intensive Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus. In diesen Theorien wird beschrieben, wie das Kollektivsubjekt sich seines Daseins bemächtigt. Es lässt Unterdrückung und Entfremdung hinter sich und gestaltet die Welt. So werden Sein und Sollen versöhnt. Jeder kann sich einfügen, weil er dem Weg seines Glückes folgt. Und die Gesellschaft als Ganzes erreicht das Ziel. Am Ende stehen Glück, Gerechtigkeit und Wohlfahrt.

Der „neue Mensch“
Und wenn es noch Hindernisse gibt, so wendet sich der Mensch sich selber zu. Er wirkt auf seine Genese ein. Unterdrückte werden befreit, Kinder in neuem Geist erzogen, Kranke geheilt, Abirrende auf den rechten Weg gebracht. So entsteht nicht nur eine neue Gesellschaft, eine neue Epoche der Wirtschaft, sondern auch ein „neuer Mensch“. Und mit ihm tritt die Menschheit in eine neue Epoche ein. Jetzt ist alle Entfremdung aufgehoben. Der Mensch ist das „Historische Subjekt“, das sein Schicksal selber in Händen trägt. Für unsere Zeit war das aber noch in weiter Ferne. Und es war unsicher, ob diese Generation das je erreichen würde.

Die neue Frage nach der Religion
Diese Einsicht wurde für mich wichtig, auch zur Relativierung der Religionskritik, die von dieser Seite geübt wurde. Die Religion interpretiere die Welt, statt sie zu verändern, hiess es. Sie projiziere den wahren Menschen in den Himmel hinauf, statt ihn auf der Erde einzufordern. Sie vertröste die Menschen auf ein Jenseits, weil das Ziel auf dieser Erde nicht erreichbar sei.

Diese Totalentwürfe des neuen Menschen und der gerechten Gesellschaft taten das aber auch, so begriff ich. Der Zeitgenosse, der Beiträge an die Partei abliefert, der seine Freizeit zur Verfügung stellt, hat keine Aussicht, je real am Endzustand teil zu haben. Er hat nicht anders an diesen Zielen teil, als es ein Kirchenangehöriger tut in Bezug auf das Reich Gottes: Das Ziel ist symbolisch präsent. Er hat in der Hoffnung daran teil und kann es «jetzt schon» feiern. Es gibt ihm Kraft, erneuert seine Motivation. Es tröstet ihn über Misslungenes und noch nicht Erreichtes. Das Symbol ist kein „Betrug“, es ist die Gegenwarts-Gestalt der grossen Ziele.

Darum die grossen Feiern der Parteien und revolutionären Staaten. Auch ihr Anhänger wird auf ein Jenseits vertröstet. Auch er muss das materialistische Weltbild übersteigen. Anders gibt es keine Ideale, keine Hoffnungen, keine Anstrengungen, keinen historischen Fortschritt im Dienst eines Zieles, das empirisch nicht vorhanden ist und das zu Lebzeiten der Arbeitenden, Strebenden, Kämpfenden auch nicht zu erreichen ist.

Symbolische Versöhnung
Kurz: Auch die Weltanschauungen, die die Religion ablehnten und die Abhängigkeit denunzierten, in der sie die Gläubigen hielten, auch sie gingen den Weg der Religion. Und das taten sie notwendig, wenn sie den Rahmen so gross aufspannten, wenn sie nicht nur das Nächstliegende anschauten, was das Wohl der Arbeiter ausmacht: Löhne, Arbeitszeit, Kranken- und Arbeitslosen-Versicherung.

Wenn sie die „Condition Humaine“ verändern wollten, wenn sie den Menschen selber modellieren wollten, wenn sie die Bedingungen des In-der-Welt-Seins verändern wollten, wenn das Geschick ausser Kraft gesetzt werden sollte, wenn die Krankheit besiegt werden sollte: Dann wurde die Grenze von Leben und Tod berührt. (Und keine Zivilisation hat sich je durchgesetzt, ohne darauf eine Antwort zu haben. Dafür nahmen sie aber auch die Religion in Anspruch.)

 

Aus «Von Gott erzählen, Notizen 2014»
Mehr Informationen zu diesem Thema  finden Sie in dem Text: „Die Erlaubnis. Die Aufhebung der Religion und ihre Wiederkehr.“ (Menüleiste, Downloads).
Foto „Befreiung – Aufstieg“ bzw. „Prometheus“ von Werner F. Kunz, Werdplatz Zürich.