Die zerlegte Göttin

Gestern waren wir im Kino, wir sahen La Chimera von Alice Rohrwacher, die wir wegen ihres Films Lazzaro Felice lieben. Es ist nicht so, wie ich erst dachte, dass das eine Wende in der kulturellen Stimmung anzeige, dass die Suche sich angesichts der verschärften Probleme (laut «NZZ» bewegen wir uns in einer «Welt der multiplen Krisen») auf kulturelle Werte verlagere. Die Autorin von Lazzaro Felice war immer schon auf dem alternativen Weg. So entspricht es einer alten Erzähl-Tradition, wenn der Grabräuber, die Suchgestalt unter den Grabräubern, die immer wieder neue etruskische Gräber aufspürt, am Schluss selbst in ein Grab gerät.

Eine Räuberbande
Das antike Grab stürzt über ihm zusammen und wird zu seinem eigenen Grab. Da sieht er eine Schnur, zieht daran, es strahlt ein Licht durch eine Öffnung über ihm. Im nächsten Bild steht er oben neben der Frau, die er verloren hat. Er ist im «Jenseits», nicht einfach in einem hypostasierten Jenseits, das in dieser Welt nicht mehr erfahren werden könnte, aber jenseits der aktuellen Kultur, die Wert und Unwert nur in Geldwert misst. Die ganze Gesellschaft – so begreift man jetzt – ist portraitiert in dieser Räuberbande, die von der Ausbeutung überkommener kultureller und natürlicher Werte lebt, die sie nicht reproduzieren kann. (Ein Seitenhieb auch die Szene, wo sie im Meer baden wollen, aber das verschmutze Wasser verätzt die Haut.)

Es ist eine Moritat, eine Räubergeschichte im traditionellen Sinn. Italien wird aber auch in einer positiven Gestalt verkörpert, in der Frau, die den Namen Italia trägt. Sie besetzt eine alte, aufgegebene Eisenbahnstation und stellt sie soweit instand, dass sie mit ihren Kindern und einigen andern Erwachsenen darin wohnen kann. Immerhin das gibt Italien noch her, scheint der Film zu sagen. Die Schatzsucher, die für die Gesellschaft stehen, suchen in alten Gräbern (das Land lebt zu einem grossen Teil vom Tourismus und dieser von der antiken Hinterlassenschaft). Der Held hat sich von diesem Weg ganz abgewandt. Er findet die verlorene Geliebte im Jenseits wieder: auf einem Weg, der das bloss Empirische übersteigt. Vertrauen, Hoffnung, Liebe scheinen in dieser Welt keine Verwirklichung mehr zu finden.

Der gefundene Schatz
Die etruskische Göttin der Tiere, die sie in einem Grab finden, wird den Grabräubern von den Hehlern und Hintermännern abgenommen. Die Wertschätzung der Tiere, der Natur, der ganzen Welt des «andern», das sich nur einer religiösen Haltung erschliesst, die nicht ausbeutet, sondern ehrt, die nicht verramscht, sondern hochhält, die nicht zum nächsten übergeht, sondern innehält und ein Heiligtum errichtet für das, was das Leben trägt und gelingen lässt, wird nicht mehr verstanden. Der Tempel ist durch das brutale Eindringen entweiht.

Die Göttin ist zerlegt. Die Räuber haben noch ihren Kopf, sie haben ihn abgeschlagen, um die Statue in Portionen aus der Höhle transportieren zu können. Auf dem Schiff, wo die Hehler die Statue zu astronomischen Preisen einer internationalen Kundschaft anbieten, wollen sie am Geldsegen teilhaben. Sie bieten den Kopf an, sie erpressen die Hehler mit der Drohung der Polizei. Bevor der Handel perfekt wird, nimmt der Suchende den Kopf und wirft ihn über Bord. Er versinkt im Meer und im Schlamm. Die Göttin ist wohl ausgegraben, aber sie ist ohne Kopf, ohne Heiligtum, ohne die Kultur und Menschen, die sie achten und wertschätzen können.

Eine Göttergeschichte
So geschieht, was auch die griechischen Mythen sagen, wenn die Göttin der Natur in der Unterwelt weilt: die Felder verdorren, die Pflanzen gehen ein, die Vegetation auf der Welt kann nicht gedeihen. Es ist eine Deutung der heutigen Kultur, von Umweltzerstörung, Artensterben und Klimawandel mit Hilfe von antiken Mythen, die es drastisch in Bilder fassen. Denn die Naturzerstörung und die Folgen, die das über die Menschen bringt, das hat bereits die Antike erlebt, die den Mittelmeerraum entwaldete, so dass ganze Landschaften verkarsteten.

Der Held findet den Tod im Grab. Die Zurückbleibenden sind vielleicht die Sieger, weil sie noch leben, weil sie nicht ins Grab gestiegen sind, weil sie so klug waren, den Suchenden vorausgehen zu lassen. Aber es ist ein trauriger Sieg in einer Welt, die mehr und mehr widerspiegelt, was die Werte der Menschen ausdrücken: dass nur Gewinn zählt, dass nur Stärke zählt, dass nur das zählt, was Gewinn abwirft und was Gewinn vermehrt.

Eine Sozialgeschichte
So muss man gar nichts tun, die Menschen werden aus ihren Häusern getrieben, die sie nicht mehr finanzieren können, die Geschäfte gehen ein, weil sie den Zins nicht mehr auftreiben können, die Vorstädte, die Dörfer sterben aus wie die Felder im Sommer, die kein Wasser mehr bekommen. Die Sieger wohnen in Städten, wo es so heiss wird, dass man Tags nicht mehr hinaus gehen kann. Sie drehen Touristen echt-antike Souvenirs an aus der etruskischen Kultur, die die Natur in religiöser Hochschätzung behandelte, wie es der Tempel der Göttin zeigt. Aber die Göttin ist in ihr Grab zurückgekehrt. Dort ruht auch der Held. Er findet seine verstorbene Geliebte, aber das ist wohl nur ein Märchen. Die Sprache fehlt uns, die seine Wertschätzung, sein Ideal, für eine Wirklichkeit halten könnte.

 

Bild: Kopf einer Kore, National Archaeological Museum of Athens, via Wikimedia Commons