Das Väterliche

Mein Lehrmeister ist gestorben. Auch wenn man es sich heute verbieten möchte, etwas anderes zu denken als diesen Krieg und die Katastrophe, die alle elektrisieren, private Ereignisse gib es auch. Ich habe ihn gestern angerufen ins Heim und erfahren, dass er gestorben sei. Ich war vorbereitet, aber es trifft mich doch. Er ist mein ehemaliger Lehrmeister, er war schon 94 Jahre alt, aber er hat auf mein Leben bleibend eingewirkt. Er war wie ein zweiter Vater für mich.

Es war mir sehr bewusst, dass er hochbetagt ist und dass der Zeitpunkt wohl kommt, um Abschied zu nehmen. Und ich habe oft für ihn gebetet in dieser Zeit. Es ist kein Vater aber doch eine Vatergestalt. Ich habe ihm schon oft gedankt für sein Dasein in jener Zeit, das mir mehr mitgegeben hat als was er mir formal beigebracht hat als Lehrmeister im Beruf. Geht das jetzt auf mich über? Muss und darf ich noch mehr lernen, die jungen Menschen der nächsten und übernächsten Generation zu unterstützen und begleiten?

Eine väterliche Welt
Ich erinnere mich, wie ich als Jugendlicher ins Casino gehen durfte, wo eine reisende Truppe Lessings «Nathan» gab. Diese Welt der Vernunft, das sprach mich an. Das ganze 18. JH hatte es mir angetan wegen der Grundstimmung von Lebensfreude und Menschenfreundlichkeit, die ich dort fand. Das Vertrauen auf die Vernunft, der Wille, alles von da her zu überprüfen und zu gestalten, gefiel mir. Ich wollte mein Leben in die Hand nehmen. Es ist eine kleine „Aufklärung“, die jeder Mensch während der Pubertät erlebt. Hier entwickelt sich seine Fähigkeit, Verantwortung zu tragen und als erwachsener Mensch zu handeln.

Obwohl ich damit selber ins Erwachsenenalter übertrat, haben diese Werte gefühlsmässig eine „väterliche Qualität“ für mich. Sie sind führend, leitend, ermutigend und spannen einen weltanschaulichen Horizont auf, der Geborgenheit und Berechenbarkeit vermittelt. Menschen in diesem Licht wirken souverän und sind von ruhiger Klarheit.

Der Meister
Es war wohl auch ein Stück Kompensation für etwas, was ich in der Kindheit vermisst hatte. Darum denke ich gern an diese Welt zurück und an die Menschen, die damals eine väterliche Rolle für mich ausübten. Dazu gehört mein Lehrmeister. Er hatte Präsenz, war „da“, in jedem Augenblick. Da gab es keine Löcher, durch die ich verschwinden und abtauchen konnte. Sein Blick leuchtete alles aus. Und es war eine gute Welt, man war ihr gewachsen und konnte ihr standhalten. Was man brauchte fürs Leben, das konnte ich bei ihm lernen, er war der Meister.

Es wird kühler draussen
Während ich das schreibe, geht draussen ein unfreundlicher Wind, die Temperatur ist um einige Grade gefallen, ich habe die Heizung etwas angedreht. Der Sommer nimmt so merklich Abschied, der Herbst meldet sich mit spätem Sonnenaufgang und früher Dunkelheit, mit kühlen Winden und unbehaglichen Tagen, wo man sich sputet und einwickelt und ins Haus flüchtet. Gestern Abend sassen wir auf dem Balkon mit dem Bewusstsein, dass es vielleicht das letzte Mal in diesem Sommer sei. Aber es werden wohl nochmal wärmere Tage kommen.

 

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