Die Mitglieder brechen weg – auch die Menschen?

Der Kirche brechen die Mitglieder weg. An vielen Orten ist nur noch ein Drittel der Bevölkerung reformiert. Altgewohnte Arbeitsformen werden hier schwer. Es gibt zu wenig reformierte Familien am Ort für einen Familien-Gottesdienst. Am einfachsten geht es noch in der Schule. Da sind alle vereint.

Ein grosser Haufe
Das Adventssingen der Schule findet in der grossen Halle statt. Alle sind da, von der ersten bis zur sechsten Klasse, mit ihren Eltern und Verwandten, etwa 600 Personen. Alle sitzen hier nebeneinander, Menschen die man sonst nie zu sehen kriegt, Schweizer, Italiener, Portugiesen – solche kenne ich noch aus meiner Handwerkerzeit – dann Menschen aus Ex-Jugoslawien. Die Zuwanderung kam seither aus vielen anderen Ländern. Ich höre Sprachen, die ich nicht mal zuordnen kann.

Die Lieder an diesem Adventssingen haben nur bedingt mit Advent zu tun, es wäre eine Zumutung, Moslems vom „Christkind“ singen zu lassen. So singen sie „Zimmetstern han i gern“ und dass der Winter kommt. Aber der Eindruck ist gewaltig. Das Erlebnis, zusammen hier zu sein, mit den Familien und mit allen, die dazugehören, das überstrahlt alles Trennende.

Ein kleiner Haufe
Wir sind ein kleiner Haufen geworden an diesem Ort, wir Reformierten. Und wir werden immer älter. Es gibt viele andere Menschen hier, aber zu ihnen habe ich als Pfarrer keinen Zugang. Es gibt keine Legitimation. Man kriegt nicht mal die Daten. Darum weiss ich auch wenig von ihnen. Und doch sind sie da, ich sehe sie einkaufen, ich sehe ihre Kinder auf dem Schulweg. Bei einer Schul-Veranstaltung sitze ich plötzlich neben ihnen. Aber sie gehören nicht zu uns. Ich sehe sie, spüre eine Verbindung zu ihnen, aber ich kann nicht hinüber. Es ist, als ob die Hände weggebrochen wären.

Sie sind da
Aus Augsburg habe ich eine Zeitschrift mitgebracht, „Riss“ heisst sie. Sie wurde auf der Strasse verkauft wie bei uns das Strassenmagazin. Aber es ist keine Arbeitslosen-Selbsthilfe. Das Magazin macht auf die vielfältigen Hilfsangebote aufmerksam, die es gibt, in allen Lebens- und Notlagen. Ich staune und bin beschämt. Erst denke ich: „Super, das können wir auch ins Auge fassen, wenn es bei uns mal anzieht, wenn die Not auch bei uns spürbarer wird.“ Dann realisiere ich:

Diese Not ist schon da, sie ist nur nicht schweizerisch und reformiert. Sie ist ausländisch und betet in fremden Sprachen. Und da fehlen uns die Hände und die Daten, da fehlt uns die Berechtigung, um auch nur auf die Menschen zuzugehen und nachzufragen.

Ja, der Reformierten Kirche brechen die Mitglieder weg. Noch sind wir nicht arm. Aber überall macht man sich Gedanken, was werden soll. Brechen uns auch die Menschen weg? Es ist ein solcher Reichtum auf der Strasse. Und wenn ich hinsehe: da ist Schönheit, da ist vieles von dem, was ich auch hochhalte und was ich mir ersehne – wie sie miteinander umgehen, was sie miteinander teilen, wie sie ihre Kultur leben. Und wenn ich den Zugang noch nicht finde in den Gesichtern der Alten, dann bin ich gleich überwunden durch die Kinder. Es erinnert an die schönsten Erinnerungen aus dem Leben mit der eigenen Familie.

Sie gehen mich nichts an
Aber sie gehen mich nichts an, sagt die verordnete Zuständigkeit. Sie gehen mich etwas an, sagt meine Empfindung. „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ Dachte Christus hier an religiöse Grenzen? Oder wird hier eine Tür aufgetan zu allen Menschen?

In der Bibel zeichnet sich diese Wende ab. „Nehmt nicht den Weg zu den Heiden und betretet keine samaritanische Stadt, geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, befiehlt Christus seinen Jüngern (Mt 10,5f). Später, als er ihnen das Leiden voraussagt, im Dienst des Evangeliums, da geht er aber einen Schritt weiter. Er spricht von Statthaltern und Königen, vor die sie geführt werden, „um Zeugnis abzulegen vor ihnen und den Völkern“ (Mt 10,18). Und als Matthäus auf die Passion Jesu hinweist, zitiert er das Gottesknecht-Lied von Jesaja 42. „Auf seinen Namen werden die Völker hoffen.“

Die Not öffnet, die Hilfe verbindet
Das, was die Türen öffnet, das ist die Passion, das ist die Not. Die Not eint alle Völker. Die Hilfe verbindet sie. Jetzt begreift es jeder, und man kann es mit Händen greifen, dass Gott das Heil universal will, dass es allen zugesagt ist, ohne Vorleistung und Vorbedingung. So kommt Gott zu den Menschen, so schickt er sie aus zu ihrem Dienst.

Das Alte Testament nimmt diese Erfahrung vorweg. Die Gottesknecht-Lieder zeigen, wie sich der Heilswille ausdehnt, wie er die Grenzen des Hergebrachten überschreitet. „Zuwenig ist es, dass du mein Knecht sein solltest, nur um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Geretteten Israels zurückzubringen; so will ich dich denn zu einem Licht der Völker machen, dass mein Heil reiche bis ans Ende der Welt.“ (Jes 49,6ff). Und bei der Stelle, die Matthäus zitiert und auf Jesus bezieht, heisst es weiter: „Ich habe dich gebildet und zum Bundesmittler gemacht für das Menschengeschlecht, zum Licht der Völker, um blinde Augen aufzutun, Gebundene herauszuführen aus dem Gefängnis und die in der Finsternis sitzen, aus dem Kerker.“ (Jes 42,6f).

Bist du es?
Auch darauf nimmt Matthäus Bezug. Als Johannes der Täufer im Gefängnis sitzt und von Jesus hört, schickt er seine Jünger und lässt ihn fragen: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht. Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt, und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11, 1-6)

Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? So sind auch wir heute gefragt, wenn wir Nicht-Reformierte sehen, Nicht-Schweizer, Nicht-XY, und was wir alles erfinden, um Menschen auszuschliessen. „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ Wenn wir uns angesprochen fühlen von ihrer Not, dann sind wir gemeint. Wenn es uns nichts angeht, dann müssen sie auf einen andern warten. Aber sind wir dann noch Boten für Gott und für Jesus Christus?

Wir verlieren uns selber dabei
Es geht nicht um Gutmenschen und guten Willen. Wir verlieren uns selber dabei, wenn wir nicht auf diese Stimme hören. Und wir können es positiv erleben, wenn wir z.B. an einem Adventssingen sitzen unter so vielen Menschen. Es stört uns, dass hier nicht vom Christkind gesungen werden kann. Sind wir nicht in der Schweiz? Heisst das nicht Adventssingen? Aber das Erlebnis der Gemeinschaft überwindet uns. Und wir begreifen: Das ist zuerst. Das andere kommt nach. Vielleicht werden sie nie christlich werden, nach ihrem Bekenntnis. Es steht aber im Horizont. Da ist Gott, da ist sein universeller Heilswille. „Am Ende der Zeit“ wird er ihn einlösen, „auf dass ihr erkennt, dass ich der Herr bin“. Uns ist der Weg gegeben.

Und es ist eine Wohltat, sie nicht mehr ausgrenzen zu müssen. Es ist eine Wohltat, die Gemeinschaft der Menschen grösser denken zu dürfen, als die Geschichte sie bisher gezeichnet hat. Hier fühle ich mich mit meinen tiefsten Bedürfnissen verstanden und aufgehoben. Gott will das Heil für alle Menschen. Niemand ist ausgeschlossen. Christus geht auf sie zu und berührt sie. Gehöre dazu, zur Familie der Menschen!

 

Foto von Ercan uğur Yaşar, Pexels
Aus Notizen 2013 – zum Dank-, Buss- und Bettag