Der Streit um Glauben, Wissen, Weltgestaltung

„Für meinen Glauben brauche ich die Kirche nicht. Gott finde ich in der Natur.“ Diese Aussage hört man häufig. Auch die Bibel kennt eine Offenbarung in der Natur. Hat Gott sie nicht hervorgerufen? Aber er zeigt sich auch in der Geschichte: in den Heilstaten des ersten und zweiten Testamentes. Das Reformationsfest erinnert an ein jahrhundertelanges Ringen um Glauben, Wissen und Weltgestaltung.

Eine Aufgabe ist gestellt
Nach der Bibel gibt sich Gott in der Schöpfung und in der Geschichte zu erkennen. Es gibt einen Zugang in der natürlichen Erkenntnis wie im Hören auf die Botschaft. Trotzdem wurde jahrhundertelang um das Verhältnis zwischen natürlicher und biblischer Offenbarung gerungen. Und diese Auseinandersetzung kann auch heute nicht zum Abschluss kommen, weil Glaubenshaltungen nicht vererbt, sondern von jeder Generation neu errungen werden müssen. Trotzdem kann es nützlich sein, einen Blick auf vergangene Auseinandersetzungen zu werfen.

Der Schlüssel der Erkenntnis
lm Mittelalter galt der Vorrang der Offenbarung. Und wie diese zu verstehen sei, das wurde vom kirchlichen Lehramt ausgelegt. Wenn man Reformen durchsetzen wollte, musste man auf eine Autorität zurückgehen, die über Papst und Bischöfen stand. So wurden im Spätmittelalter einige Konzilien einberufen. Das Resultat blieb aber unbefriedigend, daher suchte man nach einer andern Glaubensquelle, von der her wahre und falsche Lehre zu beurteilen sei. Die Renaissance gab die Parole aus „ad fontes“, „zu den Quellen“. Die einen knüpften mehr bei der natürlichen Erkenntnis und beim Erbe der griechischen Philosophie an, andere orteten die Quellen der Erkenntnis in der Bibel. Die Reformatoren wollten Kirche und Glauben von den biblischen Schriften her reformieren.

Entscheid durch die Politik
lm Gefolge der Reformation kam es zur Glaubensspaltung und zu Konfessions-Kriegen. Der Friede, der schliesslich gefunden wurde, war nicht auf theologischem, sondern auf politischem Gebiet erarbeitet worden. Es gab keine Einigung über die wahren Glaubensquellen, sondern Protestanten und Katholiken lebten nach ihren Glaubensgrundsätzen auf ihrem jeweiligen Gebiet. Auf der Ebene des Reiches, dem katholische wie protestantische Länder angehörten, wurde ein Ausgleich durch paritätische Beteiligung gefunden. Diese Lösung hat Folgen bis heute – auch für das Glaubensverständnis.

Denn nach dem Fall des Reiches im Gefolge der napoleonischen Kriege übernahmen die Nachfolgestaaten diesen Grundsatz der konfessionellen Parität als Prinzip der konfessionellen Neutralität in ihre einzelstaatlichen Verfassungen. Seither ist die Tendenz des Glaubenslebens, auch den Alltag zu gestalten und dabei nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlichen Raum mitzugestalten, begrenzt.

Privatisierung des Glaubens
Die Friedensordnung nach den Konfessionskriegen war ein erster Pflock in jenem Hag, der das Religiöse heute auf den Privatbereich eingrenzt und von der Gestaltung des öffentlichen Lebens ausgrenzt. So finden sich heute z. B. viel mehr Menschen, die sich im Namen der Religion über die Sexualmoral Gedanken machen als über die internationale Friedensordnung. Die heutige „Privatisierung des Glaubens“ hat eine lange Vorgeschichte. Und vieles, was das heutige Bibelverständnis bestimmt, ist nicht der Bibel selbst zu entnehmen, aber unserer europäischen Geschichte mit der Bibel. Nach den Auseinandersetzungen der Reformations-Zeit kam es zu einer gewissen Erstarrung in der Kirche und in dem damals noch damit verbundenen politischen und kulturellen Leben. Der Widerspruch kam von doppelter Seite.

Bibelkritik
Die Aufklärung kritisierte zunächst das Bibelverständnis der Kirchen. Die reformatorischen Kirchen hatten sich gegen die Lehrautorität des Amtes auf die Schrift berufen. Gegen die „Kirchen der Schrift“ konnte man sich nun nicht mehr auf die Schrift, wohl aber auf die angeblich älteren Teile der Schrift berufen: auf angeblich „echte Jesus-Worte“ oder auf die Gestalt einer angeblich wahren Urkirche, die später historisch verfälscht worden sei. So kam es zu ersten Ansätzen einer historischen Bibelkritik. Die Aufklärung blieb aber dabei nicht stehen. Viele Denker der Aufklärung, die zuerst Theologie studiert hatten, wechselten in die philosophische Fakultät über. In der Philosophie schien die Wahrheit besser aufgehoben.

Die Religion aufheben
Die Aufklärung hatte denn auch den Anspruch, die Wahrheit, die in den Religionen nur dunkel geahnt werde, in wahres Wissen überzuführen. So sollte die Religion im doppelten Sinn „auf-gehoben“ werden: ihr mythologisches Reden gehöre einer versunkenen Kulturepoche an und könne aufgehoben (verabschiedet) werden, aber der Wahrheitsgehalt sei besser in Philosophie und Wissenschaft aufgehoben (geborgen). Von anderer Seite kam der Widerspruch des Pietismus. Er wollte den Glauben neu beleben und aus seiner orthodoxen Erstarrung neu „erwecken“. Dabei vertraute er aber nicht auf die natürliche Vernunft, wie das die Aufklärung tat. Nach seinem Verständnis kann der Mensch nicht von sich aus zu Gott und zur Wahrheit aufsteigen.

Der Einspruch der Katastrophen
Während die Aufklärung wegen des Erdbebens von Lissabon an ihrer optimistischen Weltsicht zu zweifeln begann, wurden hier die Grenzen des Menschen von Anfang an ernster genommen: Naturkatastrophen, Tod, Krieg und Gewalt – wohl können Geschichte und Fortschritt vieles erreichen, aber letztlich bleibt der Mensch ein begrenztes Wesen und es kann seine Grenzen nicht selbst aufheben. Der Mensch erzeugt sich ja nicht selbst, er ist getragen, und erst in diesem Getragen-Sein findet er festen Grund. Dementsprechend lehnte diese Glaubens-Richtung die historische Bibelkritik ab. Der Mensch steigt nicht zu Gott hinauf, sondern Gott steigt zu ihm herab und gibt sich in Jesus Christus zu erkennen. So fallen Erkennen und Erlösung in eines.

Der Knoten der Geschichte
So endete das Jahrhundert der Aufklärung und des Pietismus in einer grossen Spannung. Die biblische Wahrheit, die zu einem vertieften Glaubensleben geführt hatte, und die Vernunft-Wahrheit, die sich immer grössere Bereiche von Politik und Kultur eroberte, fielen immer mehr auseinander. Es bestand die Gefahr, dass „der Knoten der Geschichte so auseinander ging: die Wissenschaft mit dem Unglauben und das Christentum mit der Barbarei“, wie es der Theologe Friedrich Schleiermacher im 19. Jahrhundert formulierte. In einer unerhörten intellektuellen und kreativen Anstrengung versuchte die Theologie im 19. Jahrhundert, diesen „garstigen Graben“ zu überbrücken und zwischen Wissen und Glauben zu vermitteln.

Bis etwa zum ersten Weltkrieg hatte die Aufklärung Oberhand. Die Vernunft lieh die Mittel aus, mit denen die Bibel untersucht und erforscht wurde. So wurde in der Textkritik aus den tausenden von Abschriften der wahrscheinliche Urtext des Neuen Testamentes eruiert. Die Literarkritik suchte nach den ursprünglichsten schriftlichen Quellen. Die Form- und Traditions-Geschichte fragte sogar noch hinter die Zeit der schriftlichen Überlieferung zurück und erforschten die Wege der mündlichen Überlieferung.

Paradoxe Bibelforschung
Doch dann endeten all diese Bemühungen in einem paradoxen Resultat: je nähe man an den „Ursprung“ kam, desto mehr entzog sich dieser. Die ersten Quellen, die von Jesus Christus berichten – so erkannte die Forschung – sind keine historischen Berichte, sondern Bekenntnis-Texte. Und wer dieses Bekenntnis nicht teilt, kann durch kein wissenschaftliches Argument davon überzeugt werden.

Die historische Forschung kam immer nur zu dem „Dass“: dass der historische Jesus gelebt hatte. Und die philosophische Spekulation kam immer nur zum „Was“: dem Christus und Gottessohn, der zwischen Gott und Mensch vermittelt. Aber die Einheit von „Jesus Christus“, von Gottes-Sohn und historischem Menschen, das konnte nicht aus natürlicher Erkenntnis er-kannt werden, dass konnte immer nur in einem Glaubens-Bekenntnis be-kannt werden.

Später erschütterte der 1. Weltkrieg das aufklärerische Vertrauen, das Christentum über kulturellen Fortschritt zu verwirklichen. Der Mensch schien definitiv nicht fähig, aus eigener Kraft das Reich des Friedens, von dem der Glaube spricht, zu verwirklichen. Die akademische Theologie begann damals wieder dogmatisch zu reden. Der Glaube lebt eben aus dem Bekenntnis, nicht aus der Erkenntnis. Und nach 200 Jahren Beschäftigung mit dem „historischen Jesus“ sprach man fast nur noch vom „Christus des Bekenntnisses“.

Die pietistische Tradition, die demgegenüber stets am Christus des Glaubens festgehalten hatte, sah jetzt die Gefahr, dass die historische Verankerung dieses Glaubens auf dieser Welt verlorenen gehe. So kam es zu einem eigenartigen „Frontwechsel“ in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts: die akademische Theologie sprach vom dogmatischen Christus und die pietistische Tradition betrieb historische Forschung. Ein Paradox, das wieder darauf hinweist, dass die Einheit von historischem Jesus und gepredigtem Christus im Christentum nicht aufgelöst werden kann.

Religiöse Aufblähung der Geschichte
Diese Kämpfe innerhalb der Kirche hatten in der Kultur ein Nachspiel. Das Ziel der Aufklärung, die Wahrheit der Religion in Wissen „aufzuheben“, führt zur Entstehung von säkularen Theorien, die von der Religion das absolute Ziel des Gottes-Reiches übernahmen. Nur sollte es jetzt über die Menschheits-Geschichte erreicht werden, sei das durch „Fortschritt“ oder Revolution. So kam es im 19. und 20. Jahrhundert zur Entstehung von totalitären Massenideologien, die im 2. Weltkrieg zum Desaster führten.

Pluralismus als Selbstverteidigung
Der politische Neubeginn nach dem Krieg stand deshalb unter dem Grundsatz einer rigorosen Skepsis gegen jede Behauptung einer absoluten Erkenntnis, sei das durch Wissenschaft oder Offenbarung. So können die Verfassungen der westlichen Welt auch als Resultat der Religionsgeschichte gelesen werden. In ihnen ist die Religionskritik institutionalisiert. Was im 17. Jahrhundert mit der verfassungsmässigen Parität begann und sich im 19. Jahrhundert mit der religiösen Neutralität des Staates fortsetzte, das wurde nach dem zweiten Weltkrieg um einen konstitutionellen Pluralismus erweitert. Seither ist die Religion an die Leine des Bloss-Privaten genommen. Zu gefährlich schien es, sie auf öffentlichen Strassen frei gehen zu lassen und auf das Forum, wo über die Gestaltung des öffentlichen Lebens entschieden wird.

Aber hat Jesus Christus seine Jünger ausgesandt, um das private Leben zu gestalten oder das öffentliche Leben zu beherrschen? Er hat ihnen die Füsse gewaschen. Und auf Machtansprüche antwortete er: „Wer der erste unter euch sein will, der sei aller Diener.“ Der Glaube soll durchaus das Leben gestalten, aber nicht auf dem Wege der Macht-Durchsetzung. Und ohnmächtig ist er selbst in Bezug auf eine wissenschaftliche Beweisbarkeit des Glaubens. So bleibt Glauben bis heute ein Wagnis, es gilt, das eigene Leben einzusetzen. Und dafür gibt es keinen „härteren“ Beweis als das Vertrauen. „Vertrauen“ (pistis) ist auch das Wort, wenn die Bibel vom Glauben spricht. Die Christen, die dem Weg folgen, sind die, die aus Vertrauen leben.

 

Zum Reformationstag
Aus Notizen 1999
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