Sollen wir auf einen andern warten?

Es gibt heute ein grosses Suchen bei den Menschen, eine grosse Bereitschaft zum Glauben. Man spricht sogar von einer neuen „religiösen Welle“. Viele Menschen lassen sich leiten von ihren Ahnungen, sie sind auf einem Weg zu Gott.

Gott in der Lebenswende
Wenn ein Hochzeits-Paar zu mir als Pfarrer kommt, um die Hochzeit vorzubereiten, sagen sie oft: „Wir sind nicht Kirchgänger. Aber die Hochzeit in einer Kirche, das gehört irgendwie dazu.“ Sie spüren etwas, sie möchten sich mit Ihren Ahnungen in etwas Grösseres hinein stellen.

Wenn Eltern kommen und ihr Kind taufen lassen wollen, klingt es ähnlich. Mit der Kirche haben sie nicht viel am Hut oder mit dem biblischen Glauben. Aber sie spüren: dieses Leben, das ihnen anvertraut wurde – sie möchten Danke sagen dafür und es einer Kraft anvertrauen, die grösser ist als sie. Auch wenn ihnen der Name dafür fehlt.

Ähnlich erzählen die Konfirmanden. Sie glauben an „etwas Höheres“, „aber nicht so wie in der Bibel“. Und so tönt es auch noch bei der Beerdigung. „Der Verstorbene hatte schon einen Glauben“, hört man oft. „Aber er hat Gott in der Natur gefunden, nicht in der Kirche.“

Von Gott zu reden, ist nicht ausgestorben. Viele finden einen Anknüpfungspunkt im eigenen Leben. Aber wo ist Jesus Christus? Ist es so schwer, einen Zugang zu ihm zu finden?

Gott ohne Christus?
Jugendliche wehren sich oft dagegen. Für sie sind das alte Geschichten und sie sind jung. Wer sie sind und was sie sein wollen, das finden sie, indem sie sich abgrenzen von der Welt der Erwachsenen. Und Erwachsene haben Mühe mit der Botschaft von Jesus Christus, der Kopf kommt ihnen in die Quere. Für die Vernunft ist es unverständlich, dass Gott in einem Menschen in die Welt gekommen sein soll. Schon Gott als Person zu denken, fällt ihnen schwer. Eher noch können sie sich Gott als eine Kraft vorstellen. Und dann diese Geschichte von Gott, der herabkommt, der Mensch wird, der stirbt und aufersteht und wieder in den Himmel fährt…

So gibt es Dinge, die es nicht einfach machen, von Jesus Christus zu erzählen. Aber andererseits gibt es so vieles in uns, das ihm geradezu entgegengeht. Es ist als ob Gott selbst eine Ahnung in uns hineingelegt hätte.

Gott in der Liebe
Es geht uns ähnlich wie dem Brautpaar, das in der Kirche heiraten will. Sie erzählen, wie sie sich kennenlernten. Es war, als hätten sie sich schon lange gekannt – dabei war es erst vor einem Jahr. Aber sie trugen in sich schon das Bild des andern. Und als sie ihn trafen, war es wie ein Erkennen. Ja, das ist er! Das ist sie!

Ähnlich geht es uns mit Gott. Das „Du“ ist in uns schon angelegt: der, der zu uns gehört und wir zu ihm. Und zusammen sind wir ein neues Wesen – wie Verliebte es empfinden. Und sie fragen sich, wie sie das „leben“ nennen konnten, was sie früher erfuhren.

Gott in der Natur
Auch die Natur kann eine Ahnung wecken von Gott. Berge, das Meer, der Nachthimmel – das ist gewaltig. Wir werden klein davor – aber auch gross. Die Begeisterung kann uns mitreissen. Dieses Grosse, das lebt auch in uns! Auch wir haben Teil daran. Auch wir sind ein Teil dieses grossen Geheimnisses!

Auch das Naturerleben kann ein Anfang sein zum Glauben. Aber die Natur redet mit vielen Stimmen. Da gibt es diese Kraft, die sich ausdrückt in einer ungeheuren Fülle des Lebens. Aber es gibt auch den Tod – und eine ungeheure Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen. Ein Sturm, ein Erdbeben, eine Überschwemmung – sie hinterlassen manchmal Tausende von Toten. Götter und Gottesbilder, die aus der Natur-Erfahrung abgeleitet werden, sind oft zwiespältig. Gross auf der einen Seite, aber auch grausam.

Gott in der Sehnsucht
Aber unsere Sehnsucht zielt weiter: Gott schenkt uns das Leben. – Sollte er uns allein lassen auf dem Weg? Das Evangelium erzählt von Jesus Christus. Er zog durch die Dörfer, kam durch Städte. Und die Menschen brachten ihm ihre Kranken, damit er sie heile. Sein Ruf verbreitet sich. Und Johannes der Täufer, der im Gefängnis sass, schickte seine Jünger, damit diese ihn fragten:

„Bist du es der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“

Und Christus antwortete: „Berichtet, was ihr hört und seht: Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“ (Mt 11)

Worauf wir warten
Auch wir stehen am Strassenrand, als Christus kommt. Auch wir tragen unsere Intuitionen mit uns, dass das Leben gelingen soll. Es ist auch unsere Frage, die Johannes stellt: „Bist du es der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“

Und Christus gibt auch uns die Antwort: „Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht, und selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt.“

Wenn es mir gut geht, fühle ich mich angesprochen vom Evangelium, wenn mir ein Kind geboren wird, wenn ich staune über die Kraft und Grösse der Natur. Aber ich fühle mich auch erkannt vom Evangelium, wenn es mir schlecht geht. Wenn die Natur keine Antwort weiss, wenn sie stumm dasteht oder feindselig scheint.

Aussätzige werden rein. – Da wird Leben zugesprochen, auch wo es am Ende ist.
Blinde sehen und Lahme gehen. – Da wird eine Hoffnung aufgespannt, die alles Menschenmögliche übersteigt.
Tote werden auferweckt. – Da treten wir in Verbindung mit einer Kraft, die selbst die Natur übersteigt, und wo wir uns auch dann noch aufgehoben wissen dürfen, wenn unser Leben bedroht ist oder zu Ende geht.

Alles strömt ihm entgegen
Eigentlich ist Christus nicht schwer zu vermitteln, wenn wir nur auf uns selber hören. Alles in uns strömt ihm entgegen, das Evangelium ist wie die Antwort auf die Fragen, die wir in uns tragen. Die Dankbarkeit ist vielleicht das erste, wo wir etwas von ihm ahnen. Aber auch die Bitte öffnet einen Weg zu ihm.

In der Gesellschaft, in der Natur, da hören wir immer wieder von Menschen, die auf der Strecke bleiben. Der Wettbewerb funktioniert über die Stärke und die Natur über die Auslese. Der einzelne interessiert nicht. Aber gerade am einzelnen ist Christus interessiert. Er opfert ihn nicht für das Grosse. Er ist der Hirte, der nach dem einen Schaf Ausschau hält, das verloren ist. Und er lässt die 99 stehen und ruht nicht, bis er das eine gefunden hat.

Gott am Rand
Gerade die Ausgestossenen haben es ihm angetan, die Kleinen und Verachteten. So isst er mit den Sündern, er trinkt mit den Verstossenen, berührt die Kranken und Ansteckenden, die aus der Stadt verbannt wurden und bei den Gräbern wohnen, als Lebendige bei den Toten. Und alle staunen, denn er handelt wie einer, der Vollmacht hat.

Und wenn ein Mensch sich selber hintan stellt, sich nicht mehr getraut, zu ihm zu kommen, weil er immer nur erfahren hat, dass er nichts wert ist und nicht zählt in den Augen der Welt, dann geht Christus auf ihn zu und sagt (wie zu Zachäus, der auf den Baum geklettert ist): „Komm herab, denn bei dir muss ich heute zu Gaste sein!“ Und wenn die Umstehenden murren, dass dieser doch nicht würdig sei, so sagt er: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, um das Verlorene zu suchen und zu retten. (Lk 19) „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde.“ (Joh 3,17)

Gegen den Zynismus
Wer fühlt sich bei solchen Worten nicht erkannt? Wo sind unsere Ahnungen besser aufgehoben als bei ihm? Wird hier nicht alles übertroffen, was wir von uns aus denken und hoffen können? Hier dürfen wir festhalten an unserer Intuition von Gerechtigkeit – und dass jedem Menschen eine unverlierbare Würde zukommt.

Das Evangelium rettet uns vor Zynismus. Wir müssen nicht anfangen, mit den Wölfen zu heulen. Hier dürfen wir unsere Werte leben, statt uns zu den Spöttern zu gesellen. Hier dürfen wir vertrauen. So finden wir immer wieder den Mut und die Freude, uns zu engagieren, statt der Welt ihren Lauf zu lassen.

Das Ja im Nein
Jesus Christus. Er hat von sich nie als von einem „Gott“ gesprochen. Er war der unterste von allen. Gerade darum haben die Menschen begriffen, dass hier von Gott die Rede ist. Denn der, der alles trägt, das ist der unterste von allen.

Darum sagt der Apostel Paulus: „Er hat sich selbst entäussert, er war wie ein Knecht, er war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle Massen erhöht und ihm einen Namen geschenkt, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich beuge jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

 

Aus Notizen 2005

Foto Mitsommernacht von Nico Becker von Pexels

Zum Johannistag am 24.6.22. («Als Johannes im Gefängnis von den Taten des Christus hörte, sandte er seine Jünger zu ihm und liess ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?» Mt. 11,2f)