Eine Sommerlektüre

Das Thermometer klettert auf über 30 Grad. Der Wetterdienst gibt Hitzewarnung aus. Wie sollen wir mit der Hitze zu Rande kommen? Wie ausharren in der Wohnung? Nicht das Schlechteste ist, ein Buch hervor zu nehmen und die heissen Nachmittage mit Lesen zu verbringen.

Ein Buch lässt sich auch von diesem Blog herunterladen. Es heisst «Suchwege». Ich blättere darin, ein Beispiel:

Zwischen Mythologie und Fantasy
Besonders krass wird das neue kulturelle Klima erfahrbar im Generationenwechsel. Die kirchliche Arbeit mit Erwachsenen krankt heute noch an den Folgen der „Entmythologisierung“ (so gilt z.B. die jungfräuliche Geburt den Erwachsenen von heute entweder als „blosses Märchen“ – also nichts wert, oder als Faktenaussage – dann aber im Widerstreit zum Wahrheitsbewusstsein der dominierenden Kultur – also lächerlich.) Aber die Kinder leben heute selbstverständlich in einer Welt der Mythen.

Diese haben aber die Geltung religiöser Offenbarung eingebüsst und etwas Beliebiges erhalten. Unser Jugendarbeiter schreibt ein Musical, in dem er die Welt der Jugendlichen einfängt und ihrer multikulturellen und multireligiösen Herkunft Rechnung trägt. So entsteht ein konstruierter Mythos, wie das Kunstmärchen der Romantik: Darin tauchen Erlöserfiguren auf. Ähnlich auch in den tausendfachen täglichen Programmen der Kindersendungen am abendlichen TV.

Sie machen die traditionelle Aussage, dass der Mensch erlösungsbedürftig sei, auf unerwartete Art anschaulich. Aber sie sind beliebig, wecken nicht so viel Glaubwürdigkeit, dass man sich daraus einen „Heiland“ für ein ganzes Leben wählen würde. Denn morgen kommt ja schon wieder eine neue Erlösergestalt.

Die „sinnlosen“ Fragen bleiben
Die Frage nach dem „Ganzen“, dem „Umfassenden“, dem „Ursprung“, dem „Gegenwärtigen“, der „Mitte“, dem „Ziel“ – das ist in der Vergangenheit von Religion und Philosophie beantwortet worden. Heute nach all den Wellen der Metaphysik- und Religions-Kritik ist das fremd geworden. Heute ist es in der Physik der Spur nach noch da als Frage nach der universellen Energieformel oder in der Kosmogonie als Urknall-These. Aber die Frage nach dem Menschen und seiner Kultur verschwindet in dieser Frage. Kulturelle Fragen sind nicht mathematisierbar, nicht beschreibbar in naturgesetzlichen Hypothesen. So werden solche Fragen nicht beantwortet, weltanschauliche Antworten erscheinen als sinnlos oder werden negativ bewertet.

Es bleibt aber das Bedürfnis des Menschen, sich „das Ganze“ zu vergegenwärtigen, aus der „Mitte“ zu leben, sich im „Ursprung“ unverlierbar gehalten zu wissen. Der Mensch hat die Bedingung seiner Existenz nicht in der Hand. Und die Welt findet er vor, er macht sie nicht. So vergewissert er sich ihres Bestandes in Herkunfts-Erzählungen. Dort ist Bestand – trotz all der Todesmacht in der menschlichen und historischen Erfahrung, trotz der Verfehlung des Menschen, trotz Selbstverlust. Aus der Herkunft findet er eine unverlierbare Würde. In der Mitte findet er Orientierung und Gehaltensein. Auf dem Weg zum Ziel findet er Anteil am Ganzen und Rettung aus Verzweiflung.

Phantasie im Untergrund
Dieses Bedürfnis wird von den heute anerkannten Weisen des Erzählens nicht befriedigt. Die Menschen werden auf nicht-anerkannte Formen geworfen: Aberglaube, Sekte, Psychogruppe, „blosse Religion, aber nicht Wissenschaft“. So entstehen die Phänomene der „gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit“. Menschen im Zeitalter der Weltraumfahrt glauben an Kobolde, Hexen, Gespenster, Teufel, Dämonen, Hölle etc.

Man mag das Argument des Bedürfnisses verachten, wie schon Schopenhauer es tat mit seinem Begriff des „metaphysischen Bedürfnisses“. Aber der Wildwuchs, der Ersatz der Kultur durch Marktangebote der Konsum-Industrie, der Rückgriff auf alle Formen des Aberglaubens, die Zersplitterung der weltanschaulichen Szene bis zur Auflösung eines kulturellen Minimalkonsenses sind schlechtere Alternativen.

Was nottut
Nötig ist ein neues Erzählen, das den Bedürfnissen entspricht, ganz prosaisch, so wie ein Telefonbuch dem Bedürfnis nach Auskunft im Bereich der Telefonnummern entspricht. Es gibt eben verschiedene Sorten von Literatur, mit eigenen Geltungs-Ansprüchen und eigenen Methoden. Das Kochbuch zeigt Wege zu einer Mahlzeit, das Telefonbuch Wege zur Adresse, der naturwissenschaftliche Zugriff folgt dem Interesse auf technische Verwertung und die Sprache der Religion mit ihren Bildern, Symbolen und Mythen zielt auf das Ganze, die Mitte, den Ursprung, das Ziel. Und das Christentum, als Beispiel, hat 2000 Jahre lang diese Kultur zu integrieren vermocht. Da sind Lebenserfahrungen von Generationen, erprobt in Millionen von Situationen und Lebensläufen.

Geleitet wird diese neue Erzählung von der seelsorgerlichen Erfahrung mit Menschen in allen Lebenslagen. Es ist so vom Weltganzen zu reden, dass es auf ihre Fragen Antwort gibt. Und das ist dann eine gültige Art des Welt-Darstellens neben dem wissenschaftlich-technischen Zugriff.

 

Hinweis: Dieser Text gehört zu einem Lesebuch «Suchwege». Es erzählt von 20 Jahren Auseinandersetzung mit Religion und Glaube. Es findet sich auf der Menüliste unter Downloads mit dem Titel «Suchwege».

 

Aus Notizen 2003
Foto Ron Lach, Pexels